Qiu Xiaolong
bemerkte seine Mutter.
»Ja«, sagte er, »bisher habe ich Glück gehabt.«
Doch vielleicht war es damit jetzt vorbei. Es war eine Ironie, daß er bei der Rechtfertigung seiner Berufswahl für einen Augenblick vergessen hatte, welches Damoklesschwert über ihm hing. Das wollte er nicht mit seiner Mutter bereden. Sie hatte genug eigene Kümmernisse.
»Dennoch möchte ich dir meine Meinung dazu sagen.«
»Bitte.«
»Du hast Glück und Talent, aber du hast nicht die innere Veranlagung für einen solchen Beruf. Du bist doch mein einziger Sohn. Mach etwas anderes, bevor es zu spät ist. Versuch, etwas zu tun, das dich wirklich interessiert.«
»Ich werde darüber nachdenken, Mutter.«
Er hatte darüber nachgedacht.
Wenn man hart an etwas arbeitet, beginnt es, Teil von einem selbst zu werden, auch wenn man es nicht wirklich mag und weiß, daß dieser Teil irreal ist.
Diese Zeile hatte er unter das Gedicht »Wunder« an die Freundin im entfernten Peking geschrieben. Die Aussage konnte sich auf Poesie, aber auch auf die Polizeiarbeit beziehen.
28
ES WAR SCHON neun Uhr abends, als Oberinspektor Chen wieder in seiner Wohnung war.
Das Signallämpchen seines Anrufbeantworters blinkte.
»Genosse Oberinspektor Chen, hier spricht Li Guohua. Bitte rufen Sie mich an, wenn Sie zurück sind. Ich bin heute abend lange im Büro. Es ist jetzt zehn vor fünf.«
Er rief im Präsidium an. Der Hörer wurde beim ersten Klingeln abgenommen. Li hatte auf seinen Anruf gewartet.
»Kommen Sie ins Büro, Oberinspektor Chen. Ich muß mit Ihnen reden.«
»Ich brauche ungefähr eine halbe Stunde. Sind Sie dann noch da?«
»Ja, ich warte auf Sie.«
Es dauerte länger als eine halbe Stunde, bis er Parteisekretär Lis Büro im fünften Stock betrat. Li aß gerade Instantnudeln mit Rindfleischgeschmack. Die Plastikschale stand inmitten von Papieren, die auf dem Schreibtisch aus Mahagoniholz verstreut waren. In einem eleganten Quarz-Aschenbecher aus Fu-Juan mit Drachenmuster lag ein Häufchen Zigarettenstummel.
»Genosse Parteisekretär Li, Oberinspektor Chen meldet sich zum Dienst«, sagte Chen, die politisch korrekte Form beachtend.
»Willkommen, Genosse Oberinspektor Chen. Schön, daß Sie wieder da sind.«
»Danke.«
»Wie stehen die Dinge?«
»Alles in Ordnung«, sagte Chen. »Ich habe heute früh versucht, Ihnen Meldung zu machen, aber Sie waren nicht zu erreichen. Ich hatte dann den Tag über außerhalb zu tun.«
»Ich weiß, daß Sie in dem Fall tüchtig ermittelt haben«, sagte Li. »Berichten Sie mir jetzt davon.«
»Wir sind wirklich ein Stück weitergekommen.« Chen öffnete seine Aktentasche. »Wie Hauptwachtmeister Yu vielleicht gemeldet hat, haben wir vor meiner Reise nach Guangzhou Wu Xiaoming als Hauptverdächtigen ins Visier genommen, jetzt haben wir noch einige andere Spuren, und sie passen alle zusammen.«
»Neue Spuren?«
»Bei einer handelt es sich um den letzten Telefonanruf, den Guan am 10. Mai erhalten hat. Dieser Anruf kam ganz eindeutig von Wu Xiaoming. Das ist erwiesen.« Er legte eine Kopie des Berichts auf den Schreibtisch.
»Das war nicht sein einziger Anruf. Über ein halbes Jahr hat Wu sie sehr oft angerufen, im Durchschnitt drei- bis viermal die Woche, manchmal spätabends. Und Guan hat ihn ebenfalls angerufen. Ihre Beziehung ging offenbar tiefer, als Wu zugegeben hat.«
»Das könnte etwas bedeuten«, sagte Li, »aber Wu Xiaoming war Guans Fotograf. Möglicherweise hat er ab und zu aus beruflichen Gründen mit ihr telefoniert.«
»Nein, dahinter steckt viel mehr. Wir haben auch einige Zeugen dafür. Bei einer Zeugin handelt es sich um eine Straßenhändlerin, die nachts an der Ecke zur Hubei Lu arbeitet. Sie hat ausgesagt, daß sie einige Male kurz vor Guans Tod sah, wie diese spätnachts in Begleitung eines Mannes in einem weißen Luxuswagen nach Hause kam. Wu fährt einen weißen Lexus, den Wagen seines Vaters.«
»Es könnte doch auch ein Taxi gewesen sein.«
»Das glaube ich nicht. Die Händlerin sagte, auf dem Dach des Wagens sei kein Taxischild gewesen. Sie hat auch gesehen, wie Guan sich in den Wagen hineinbeugte und den Fahrer küßte.«
»Also so was!« Li warf die leere Plastikschale in den Abfalleimer. »Aber auch andere Leute haben weiße Autos. Heute gibt es in Shanghai so viele junge, erfolgreiche Unternehmer.«
»Wir haben unter anderem herausgefunden, daß Wu im Oktober letzten Jahres mit Guan eine Reise in die Gelben Berge gemacht hat. Sie reisten unter falschen
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