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Qiu Xiaolong

Qiu Xiaolong

Titel: Qiu Xiaolong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tod einer roten Heldin
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Schlafzimmern ging, die Ziege vor sich hertraben. Wenn die Ziege stehenblieb, nahm der Kaiser dies als Wink des Himmels, daß er die Nacht im nächstgelegenen Zimmer verbringen solle. Bald stellte der Kaiser fest, daß die Ziege besonders oft vor der mit Perlenschnüren verhängten Tür der dreihundertelften Konkubine haltmachte. Die Konkubine war in weiße Wolken gehüllt, in Erwartung des kommenden Schauers. Sie gebar dem Kaiser einen Sohn, der zum Kaiser Xing heranwuchs. Durch seinen Hunger nach einem Seehafen verlor Kaiser Xing das Reich an angreifende Barbaren. Es war eine lange, komplizierte Geschichte, aber das Geheimnis der dreihundertelften Konkubine war einfach. Sie hatte Salz auf die Türschwelle gestreut, und die Ziege blieb dort stehen, um das Salz aufzulecken.
    Der verstorbene Professor hatte am Beispiel dieser Fabel die Kontingenz der Geschichte veranschaulicht. Aber für einen Oberinspektor sollte alles an einem Kriminalfall gewiß und logisch sein.
    Es war fast drei. Oberinspektor Chen hatte das Mittagessen ausfallen lassen, aber er war nicht hungrig. Er hörte ein Klopfen an der Tür.
    »Herein«, sagte er.
    Zu seinem Erstaunen stand Dr. Xia im Türrahmen. In jeder Hand trug er eine schwere Plastiktüte.
    »Ich habe nasse Schuhe.« Dr. Xia schüttelte den Kopf und machte keine Anstalten, näherzutreten. »Hier bringe ich Ihnen eine gebratene Peking-Ente aus dem Restaurant Yan Wolke. Letztes Mal haben Sie mich so großzügig bewirtet. Wie Konfuzius sagt: ›Es ist schicklich und recht, empfangene Freundlichkeit zu erwidern.‹«
    »Herzlichen Dank, Dr. Xia«, sagte Chen und erhob sich, »aber eine ganze Ente ist viel zuviel für mich. Es ist weit besser, Sie bringen sie Ihrer Familie mit.«
    »Ich habe noch eine.« Dr. Xia hob die andere in Plastik verpackte Ente hoch. »Ehrlich gesagt, ist der Chefkoch dort ein Patient von mir. Er war nicht davon abzubringen, mir die Enten zu schenken. Hier ist noch ein kleines Gefäß mit der Spezialsauce des Restaurants. Allerdings weiß ich nicht, was man mit den grüne Schalotten macht.«
    »Wie Konfuzius sagt: ›Es ist nicht schicklich und recht, das Geschenk eines Älteren abzulehnen. Ich werde es also annehmen müssen. Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?«
    »Nein, danke, ich kann mich leider nicht aufhalten.« Dr. Xia blieb, nervös gestikulierend, im Türrahmen stehen, halb dem Großraumbüro zugewandt. »Aber ich muß Sie um einen Gefallen bitten.«
    »Gerne, alles, was Sie wollen«, sagte Chen. Er fragte sich, warum Dr. Xia ausgerechnet einen solchen Augenblick wählte, um ihn um einen Gefallen zu bitten.
    »Ich möchte, daß Sie mich in die Partei einführen. Ich weiß, daß ich kein Aktivist bin. Ich habe noch einen weiten Weg vor mir, bevor ich mich als würdiges Parteimitglied erweisen kann. Aber ich bin immerhin ein ehrlicher chinesischer Intellektueller mit einem Mindestmaß an Bewußtsein.«
    »Wie bitte?« fragte Chen verblüfft. »Aber – haben Sie denn nicht von den Neuigkeiten hier gehört?«
    »Nein, das habe ich nicht.« Dr. Xia hob die Stimme und winkte ab, indem er seine goldgeränderte Brille zurechtrückte. »Und es ist mir auch gleichgültig. Hören Sie, Sie sind ein loyales Parteimitglied, das ist alles, was ich weiß. Wenn Sie nicht dazu qualifiziert sind, ist es niemand in diesem Präsidium.«
    »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, Dr. Xia.«
    »Erinnern Sie sich an die zwei Zeilen des Generals Yue Fei? Ich werde einen Kotau vor dem Himmel machen, / Wenn im Land die Ordnung wiederhergestellt ist. In unserem Land die Ordnung wiederherstellen – das ist es, was Sie wollen, und das ist es, was ich will.«
    Und mit dieser dramatischen Erklärung, den Kopf in den Nacken geworfen, als habe er einem unsichtbaren Publikum die Meinung gesagt, schritt Dr. Xia davon, ohne noch einen Blick auf die befremdeten Gesichter im Großraumbüro zu werfen.
    »Auf Wiedersehen, Dr. Xia«, rief ihm jemand verspätet nach.
    Chen schloß mit der einen Hand die Tür hinter sich; in der anderen trug er die Ente.
    Er wußte, warum Dr. Xia ihm diesen unerwarteten Besuch abgestattet hatte. Der gute alte Doktor, der während der Kulturrevolution so viel durchgemacht hatte, war weit davon entfernt, der Partei beitreten zu wollen. Der Besuch – samt der einstudierten Erklärung und der gebratenen Ente – sollte eine Haltung demonstrieren, zu der Dr. Xia sich als ehrlicher chinesischer Intellektueller mit einem »Mindestmaß an Bewußtsein« verpflichtet

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