Qiu Xiaolong
Gao auf den Boden und blickte dabei auf die Füße der toten Frau, die unter der Decke hervorragten. Weiße, wohlgeformte Füße mit geschwungenem Rist, zierlichen Zehen, dunkelrot lackierten Nägeln.
Dann sah er die glasigen Augen eines toten Karpfens, der an der Oberfläche des Eimers trieb. Kurz beschlich ihn das Gefühl, der Fisch starre ihn an; sein Bauch wirkte gespenstisch weiß und aufgedunsen.
»Diesen Tag unseres Wiedersehens werden wir jedenfalls nicht vergessen«, meinte Liu.
2
UM 16.30 UHR AN JENEM TAG wußte Oberinspektor Chen Cao, der Leiter der Spezialabteilung innerhalb der Mordkommission der Shanghaier Polizei, noch nichts von diesem Fall.
An jenem Freitagnachmittag war es ziemlich schwül. Aus der Pappel vor dem Fenster seines neuen Einzimmerapartments, das sich im zweiten Stock eines grauen Backsteingebäudes befand, drang gelegentliches Zirpen von Zikaden an sein Ohr. Aus dem Fenster blickte man auf die vielbefahrene Huai-hai Zhonglu, die allerdings weit genug entfernt lag, daß man den Autolärm nicht hörte. Von hier aus war es nicht weit bis ins Zentrum des Bezirks Luwan; zur Nanjing Lu im Norden oder zum Stadtgott-Tempel im Süden brauchte man zu Fuß keine zwanzig Minuten, und in klaren Sommernächten wehte vom Huangpu eine frische Brise herüber.
Oberinspektor Chen hätte eigentlich noch im Büro bleiben sollen, doch er war heimgegangen, um sich dort mit einem Problem zu beschäftigen. Nun saß er auf seiner Ledercouch, die Beine auf einen grauen Schaukelstuhl gelegt, und musterte eine Liste auf der ersten Seite eines kleinen Notizblocks. Er kritzelte ein paar Worte darunter, strich sie wieder durch, sah aus dem Fenster. Im Licht der Nachmittagssonne blickte er auf einen hohen Kran, der sich gegen einen Neubau etwa einen Häuserblock entfernt abhob. Noch immer wurde an der Wohnanlage gebaut.
Dem Oberinspektor war die Wohnung erst vor kurzem zugewiesen worden, und nun plante er seine Einweihungsparty. Wenn man in Shanghai eine Wohnung bekam, mußte das gefeiert werden. Seine Freude war groß. Spontan hatte er einige Einladungen verschickt und war nun dabei zu überlegen, was er seinen Gästen vorsetzen sollte. Ein einfaches Mahl würde nicht genügen, dies hatte ihm Lu, der den Spitznamen »Überseechinese« trug, bereits zu bedenken gegeben. Ein solcher Anlaß erforderte ein besonderes Menü.
Ein weiteres Mal ging er die Namen auf seiner Liste durch. Wang Feng, Lu Tonghao und dessen Frau Ruru, Zhou Kejia und dessen Frau Liping. Die Zhous hatten ihn zwar angerufen und gemeint, daß sie vielleicht nicht kommen könnten, weil sie zu einer Veranstaltung an der East China Normal University eingeladen seien, aber er hatte sie trotzdem noch nicht von seiner Liste gestrichen.
Das Telefon auf dem Aktenschrank läutete. Er ging hinüber und hob den Hörer ab.
»Hier bei Chen.«
»Herzlichen Glückwunsch, Genosse Oberinspektor Chen!« sagte Lu. »Hmmm, fast rieche ich schon all die wundervollen Düfte, die aus deiner neuen Küche dringen.«
»Sag bitte nicht, daß ihr verhindert seid, Überseechinese Lu. Ich rechne fest mit euch.«
»Selbstverständlich kommen wir. Es ist nur so, daß das Bettlerhuhn noch ein paar Minuten schmoren muß. Das köstlichste Huhn in ganz Shanghai, das garantiere ich dir. Nur mit den besten Piniennadeln aus den Gelben Bergen gebraten, damit sich sein spezielles Aroma richtig entfalten kann. Keine Sorge, wir würden deine Einweihungsparty auf gar keinen Fall verpassen wollen, du Glückspilz!«
»Danke.«
»Und vergiß nicht, ein paar Flaschen Bier in den Kühlschrank zu stellen. Und auch die Gläser, das macht viel aus!«
»Ich habe schon sechs Flaschen kaltgestellt, Qingdao und Bud. Und der Reiswein aus Shaoxing soll erst bei eurer Ankunft erwärmt werden, richtig?«
»Jetzt darfst du dich schon halb als Gourmet fühlen. Vielleicht sogar schon etwas mehr als das. Jedenfalls lernst du rasch.«
Dieser Kommentar war wieder mal typisch für Lu. Selbst über das Telefon merkte Chen ihm deutlich an, wie aufgeregt ihn die Aussicht auf ein gutes Abendessen stimmte. Wenn man sich mit Lu unterhielt, konnte man sicher sein, daß das Gespräch nach wenigen Minuten auf Lus Lieblingsthema umschwenkte – Essen.
»Mit dem Überseechinesen Lu als Lehrer kann ich doch gar nicht umhin, Fortschritte zu machen.«
»Heute abend nach der Party werde ich dir ein neues Rezept verraten«, sagte Lu. »Du bist doch wirklich ein Glückspilz, Genosse Oberinspektor! Deine
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