Qiu Xiaolong
Schultern fällt / hellgrün in deiner Uniform, wie der Frühling …«
»Das habe ich wirklich erlebt. Sie bestand darauf, den Opfern zu helfen, obwohl es in Strömen regnete. Ich war auch dort, und der Anblick hat mich sehr berührt.«
»Aber das Bild haben Sie aus dem Gedicht ›Ich beobachte eine Schönheit beim Kämmen ihrer Haare‹ von Li He übernommen. Das Bild mit dem grünen Kamm in ihrem langen Haar.«
»Nein, habe ich nicht, aber ich verrate Ihnen ein Geheimnis – es stammt aus einem anderen klassischen Gedicht: Ich denke an deinen grünen Rock, und überall / überall, wohin ich trete, setze ich meine Schritte ganz sanft auf das Gras.«
»Dann wundert es mich nicht, daß Sie sich lyrisch so haben steigern können«, sagte Dr. Xia. »Ich bin froh, daß Sie der klassischen Dichtung Ihren Tribut zollen.«
»Natürlich tue ich das. Aber genug von der Dichterei«, sagte Chen. »Ich wollte nämlich auch Sie anrufen, und zwar wegen des Plastiksacks im Fall Guan.«
»Dieser Plastiksack gibt nicht viel her. Ich habe versucht, mehr herauszufinden, habe jedoch nur erfahren, daß die Leute solche Säcke normalerweise benutzen, um das Laub in ihren Hinterhöfen darin zu sammeln.«
»Ach ja? Ein Taxifahrer, der sich Sorgen um das herabgefallene Laub in seinem Hinterhof macht …«
»Wie bitte?«
»Ach, nichts weiter«, sagte Chen. »Trotzdem vielen Dank, Dr. Xia!«
»Keine Ursache, Genosse Oberinspektor Chen und chinesischer Imagisten-Dichter.«
Ihre weißen Füße, aus dem schwarzen Plastiksack ragend, ihre rotlackierten Fußnägel wie abgefallene Blütenblätter in der Nacht – das könnte durchaus eine modernistische Metapher sein.
Als nächstes bat Chen Hauptwachtmeister Yu zu sich. Gleich beim Hereinkommen gratulierte auch dieser ihm. »Was für eine Überraschung, Genosse Oberinspektor Chen, das ist ja ein richtiger Durchbruch!«
»Schön und gut, aber noch besser wär’s, wenn wir das endlich über unseren Fall sagen könnten.«
Ihre Ermittlungen hatten tatsächlich ein Wunder nötig.
Auch Hauptwachtmeister Yu stand mit leeren Händen da. Seiner Theorie folgend, hatte er im Taxibüro ermittelt, doch dort hatte er enttäuscht feststellen müssen, daß es unmöglich war, irgend etwas auch nur annähernd Verläßliches über diese Nacht herauszufinden. Es war zwecklos, die Quittungen der Taxifahrer zu überprüfen. Wie ihm erklärt wurde, behielten die meisten Fahrer – egal, ob sie für eine staatliche oder private Firma arbeiteten – eine ansehnliche Summe ihres Verdienstes für sich, indem sie keine Quittungen ausstellten. Auf diese Weise konnte ein Fahrer behaupten, er sei die ganze Nacht herumgefahren, ohne einen einzigen Passagier aufgegabelt zu haben, und kam damit natürlich gut weg.
Außerdem hatte Yu die Kundenlisten sämtlicher Shanghaier Reisebüros für den Monat Mai überprüft. Guan stand auf keiner dieser Listen.
Auch die Nachforschung über das letzte Telefonat, das Guan im Kaufhaus geführt hatte, war im Sande verlaufen. An diesem Abend hatten viele Leute das Telefon benutzt. Allerdings schien Frau Wengs Erinnerung an die Uhrzeit nicht zu stimmen. Yu verbrachte geraume Zeit damit, die anderen Telefonate auszuschließen, die um die fragliche Zeit herum stattgefunden hatten; das Gespräch, das am ehesten von Guan geführt worden war, ging an den Wetterdienst. Da Guan eine Reise geplant hatte, war ein Anruf beim Wetterdienst durchaus möglich, bestätigte aber letztlich nur etwas, was sie ohnehin schon wußten.
Und je mehr Zeit verstrich, desto kälter wurde die Spur.
Sie standen unter Druck, nicht nur seitens des Präsidiums, sondern auch seitens der städtischen Behörden. Der Fall war in aller Munde, obwohl er in der Lokalpresse kaum erwähnt wurde. Je länger er ungelöst blieb, desto negativer wirkte sich dies auf das Präsidium aus.
»Allmählich wird er politisch«, sagte Chen.
»Unser Parteisekretär Li hat doch immer recht.«
»Wie wär’s, wenn wir etwas in die Zeitung setzen würden, vielleicht eine Belohnung für sachdienliche Hinweise?«
»Das wäre einen Versuch wert. Die Wenhui-Zeitung könnte diesen Aufruf bringen. Aber wie sollen wir ihn formulieren? Parteisekretär Li hat ja festgestellt, daß der Fall sehr heikel ist.«
»Na ja, wir müssen den Fall doch nicht direkt ansprechen. Wir könnten fragen, ob jemand in der Nacht vom 10. Mai in der Umgebung des Baili-Kanals etwas Verdächtiges bemerkt hat.«
»Ja, so könnten wir es machen«, sagte Chen.
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