Qiu Xiaolong
Versammlungen und Konferenzen, an denen sie teilnehmen mußte.«
»Ist Ihnen bei diesen Telefonaten etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Nein, eigentlich nicht, es werden hier sehr viele Gespräche geführt. Ich habe immer viel zu tun.«
»Haben Sie vielleicht zufällig einmal etwas mitbekommen?«
»Genosse Oberinspektor, es gehört sich nicht, daß ich die Gespräche anderer Leute belausche«, meinte Onkel Bao.
»Das stimmt natürlich. Verzeihen Sie mir diese ungehörige Frage. Es ist nur so, daß dieser Fall sehr wichtig für uns ist.«
Da kamen endlich die fritierten Teigbällchen, und beide machten sich erst einmal darüber her.
»Jetzt, wo Sie davon sprechen, fällt mir vielleicht doch etwas Ungewöhnliches ein«, sagte Onkel Bao, an einem der Bällchen knabbernd. »Die öffentlichen Telefondienste sind gewöhnlich von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends geöffnet. Den Bewohnern dieses Heims zuliebe, von denen viele in der Spätschicht arbeiten, haben wir unsere Öffnungszeiten bis auf elf Uhr abends ausgedehnt. Guan hat ziemlich oft nach neun oder sogar zehn Uhr abends telefoniert, wenn ich mich recht entsinne. Vor allem im letzten halben Jahr.«
»Hätte sie das denn nicht tun dürfen?«
»Nein, das nicht, aber es war ungewöhnlich. Das Kaufhaus Nummer 1 schließt um acht.«
»Ach ja?«
»Die Leute, die sie angerufen hat, müssen also ein privates Telefon besessen haben.«
»Vielleicht hat sie ihren Chef angerufen.«
»Ich würde meinen Chef nicht nach zehn anrufen. Würde eine junge alleinstehende Frau das tun?«
»Ja, da haben Sie recht. Das haben Sie wirklich gut beobachtet.«
Das Mitglied des Straßenkomitees besaß scharfe Ohren und auch einen scharfen Verstand, dachte Chen.
»Das ist meine Pflicht.«
»Sie denken also, sie hatte eine feste Beziehung?«
»Möglicherweise«, sagte Onkel Bao nach einer kurzen Pause. »Wenn ich mich recht entsinne, wurde sie meistens von einem Mann angerufen. Er sprach mit einem deutlichen Pekinger Akzent.«
»Könnte man denn seine Nummer herausbekommen?«
»Nicht wenn sie ihn anrief, in dem Fall ist es unmöglich, die Nummer zurückzuverfolgen. Aber die Anrufe von außen könnten noch in unseren Unterlagen vermerkt sein. Wissen Sie, wir schreiben die Nummer auf einen Zettel und außerdem auf einen Kontrollabschnitt. Wenn der Zettel verlorengeht, haben wir die Nummer immer noch auf dem Kontrollabschnitt.«
»Ach ja? Und diese Kontrollabschnitte heben Sie auf?«
»Nicht alle. Die meisten haben sich nach ein paar Tagen erledigt. Aber vielleicht könnte ich noch ein paar aus den letzten Wochen für Sie auftreiben. Allerdings brauche ich etwas Zeit dazu.«
»Das wäre phantastisch«, sagte Chen. »Vielen tausend Dank, Onkel Bao. Ihre Informationen werfen ein völlig neues Licht auf unsere Ermittlungen.«
»Gern geschehen, Genosse Oberinspektor!«
»Eins noch: Hat Guan denn am 10. Mai einen Anruf erhalten? In der Nacht, in der sie ermordet wurde?«
»Der 10. Mai … das war ein Donnerstag. Na ja, da müßte ich die Kontrollabschnitte durchsehen. Ich hebe die meisten Abschnitte bei mir daheim auf, weil die Schublade in meinem Büro zu klein ist.«
»Rufen Sie mich bitte gleich an, wenn Sie etwas finden«, sagte Chen. »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Schon gut, Genosse Oberinspektor«, sagte Onkel Bao. »Dafür bin ich ja schließlich Mitglied beim Straßenkomitee.«
An der Bushaltestelle drehte sich Chen noch einmal um und sah, wie der alte Mann wieder in seinem winzigen Büro herumwerkelte; er hatte einen Hörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt, nickte, schrieb etwas auf ein Blatt Papier, streckte mit der anderen Hand einen Zettel aus dem Fenster. Ein pflichtbewußter Vertreter des Straßenkomitees, wahrscheinlich auch Parteimitglied.
Ein neuer Hinweis: Vielleicht hatte Guan doch einen festen Freund gehabt.
Er wußte nach wie vor nicht, warum sie so ein Geheimnis daraus gemacht hatte. Daß dieser Fall ein politischer Fall war, bezweifelte er nun völlig. Wang mit ihrem grünen Jadeglücksbringer hatte ihn dazu gebracht, in diese Richtung zu denken. Doch in dem Augenblick, in dem er sich in den Bus quetschte, verließ ihn sein Glück. Er steckte mitten zwischen den Passagieren an der Tür und wurde weitergedrängt, bis er am Busen einer dicken Frau mittleren Alters landete, deren grellgeblümte Bluse schweißgetränkt, naß, fast durchsichtig war. Er bemühte sich nach Kräften, jedoch vergeblich, um etwas Abstand.
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