Qiu Xiaolong
ihrem Status entsprach. Es war keineswegs überraschend, daß sich die Partei in ihr Privatleben eingemischt hatte. Doch es überraschte ihn, wie sie sich daraufhin verhalten hatte. Sie hatte sich Lai hingegeben, sich dann jedoch von ihm getrennt, ohne ihm den wahren Grund zu nennen. Dem Parteikodex zufolge war ein solcher Akt von nicht hinnehmbarer »Liberalität« gewesen. Doch all dies war vor zehn Jahren passiert. Hatte es sich dennoch auf ihr späteres Leben ausgewirkt?
Vielleicht war diese Erfahrung für sie traumatisch gewesen? Dadurch ließe sich möglicherweise erklären, warum sie sich jahrelang nicht auf einen neuen Liebhaber eingelassen hatte, bis sie Wu Xiaoming begegnet war.
Chen rief Yu an.
»Qinqin geht es schon wieder viel besser«, sagte Yu. »Ich denke, ich könnte bald wieder im Büro sein.«
»Bleiben Sie ruhig zu Hause. Hier ist nichts Besonderes los. Kümmern Sie sich lieber um Ihren Sohn.« Dann fügte er noch hinzu: »Ich habe mir gerade Ihre Kassette angehört. Sie haben gute Arbeit geleistet.«
»Lais Alibi habe ich bereits überprüft. In der Mordnacht war er mit einer Gruppe von Ingenieuren auf einer Konferenz in Nanning.«
»Hat Lais Betrieb dies bestätigt?«
»Ja. Ich habe auch mit einem Kollegen gesprochen, der in dieser Nacht ein Zimmer mit Lai teilte. Lai war die ganze Zeit dort. Sein Alibi ist hieb- und stichfest.«
»Hat er denn im letzten halben Jahr versucht, Kontakt mit Guan aufzunehmen, sie anzurufen oder so?«
»Nein, er meinte, das habe er nicht getan. Er ist vor kurzem aus Amerika zurückgekommen. Dort hat er ein ganzes Jahr in einem Universitätslabor gearbeitet. Ich glaube nicht, daß wir in dieser Richtung weiterkommen.«
»Da haben Sie wohl recht«, meinte Chen. »Und es ist ja auch einige Jahre her. Falls Lai jemals vorhatte, sich zu rächen, dann hätte er nicht so lange gewartet.«
»Ja. Zur Zeit arbeitet Lai ein- bis zweimal im Jahr eng mit amerikanischen Universitäten zusammen und verdient einen Haufen Dollar damit. Er ist ein bekannter Fachmann auf seinem Gebiet und lebt glücklich und zufrieden mit seiner Familie. In unserer heutigen Marktgesellschaft hätte eher Guan bereuen müssen, was vor zehn Jahren passiert ist.«
»Rufen Sie mich an. wenn Sie noch etwas Neues über Lai herausfinden.«
Als nächstes beschloß Chen, Kommissar Zhang den routinemäßigen Bericht zu erstatten, den er ihm in letzter Zeit schuldig geblieben war.
Kommissar Zhang las gerade eine Filmzeitschrift, als Chen in sein Büro trat.
»Welcher Wind weht Sie denn heute zu mir, Genosse Oberinspektor Chen?« Zhang legte die Zeitschrift zur Seite.
»Ein Wind, der Krankheiten verursacht, fürchte ich.«
»Was für einer?«
»Der Sohn von Hauptwachtmeister Yu ist krank. Yu mußte ihn heute morgen ins Krankenhaus bringen.«
»Ach so, dann konnte er also heute nicht ins Büro kommen.«
»Ja. Er hat in letzter Zeit sehr hart gearbeitet.«
»Gibt es denn neue Spuren?«
»Vor etwa zehn Jahren hatte Guan einen Freund, doch sie trennte sich von ihm, nachdem die Partei dies von ihr verlangt hatte. Yu hat mit ihrem damaligen Vorgesetzten, dem pensionierten Parteisekretär Huang aus dem Kaufhaus Nummer 1, und mit dem Ingenieur Lai, ihrem damaligen Freund, gesprochen.«
»Das weiß ich schon alles. Ich habe auch schon mit dem pensionierten Parteisekretär gesprochen, der mir die Geschichte erzählte. Sie hat richtig gehandelt.«
»Wissen Sie denn, daß…« Chen beendete diesen Satz nicht, denn er war sich nicht sicher, wie Zhang auf Lais Version reagieren würde. »Sie war sehr aufgewühlt, als sie sich von ihm trennen mußte.«
»Verständlicherweise. Sie war jung und vielleicht auch etwas romantisch. Aber sie hat richtig gehandelt, als sie der Entscheidung der Partei gehorchte.«
»Aber vielleicht war das traumatisch.«
»Ist das wieder einer Ihrer modernistischen Begriffe?« fragte Zhang verdrossen. »Vergessen Sie nicht, als Parteimitglied mußte sie für die Interessen der Partei eintreten.«
»Schon gut, ich versuche nur zu verstehen, wie sich das auf ihr Privatleben ausgewirkt haben könnte.«
»Hauptwachtmeister Yu verfolgt also noch immer diese Richtung?«
»Nein, Hauptwachtmeister Yu glaubt nicht, daß Herr Lai etwas mit dem Fall zu tun hat. Es ist ja ziemlich lange her.«
»Das habe ich auch gedacht.«
»Sie haben recht, Kommissar Zhang«, sagte Chen. Allerdings fragte er sich, warum Zhang diese Information für sich behalten hatte. War er so erpicht darauf, das
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