Quade 01 - Verzaubert von deinen Augen
seiner scharfen grauen Augen auf seine errötende Gouvernante.
»Papa hat dich auf dem Boot geküßt«, bemerkte sie. »Wird er dir Geld dafür
geben?«
Charlotte kicherte, und Lydia
errötete noch heftiger. »Natürlich nicht!« erwiderte sie entrüstet.
Persephone lachte. »Ich bereue es
jetzt fast, euch 'zu verlassen«, erklärte sie. »Ich glaube, ich werde das
größte Schauspiel des Jahrhunderts verpassen.«
Lydia hatte nicht die Absicht, an
irgendeinem Schauspiel teilzunehmen. »Ich weiß nicht, was Sie damit sagen
wollen«, wandte sie sich in höflichem, aber entschiedenem Ton an die alte Dame.
»Dann denken Sie einmal gut nach«,
versetzte Persephone.
Lydia schwieg und schaute auch
niemanden mehr an, bis die Kutsche vor dem Hotel Imperial anhielt. Peter und
Eustace Wallace, Freunde der Familie Quade, warteten bereits auf Charlotte und
Millie, die den Nachmittag und den Abend bei ihrer Tochter Bertha verbringen
würden.
Als Lydia und Persephone ihre Zimmer
bezogen hatten, wusch Lydia ihre Hände und ihr Gesicht und steckte ihr Haar neu
auf, aber die ganze Zeit vermochte sie an nichts anderes zu denken als an
Brighams Kuß. Bei der Vorstellung, daß er eine andere Frau auf solche intime
Weise küssen könnte, für Geld oder umsonst, erfaßte sie eine völlig
unvernünftige Eifersucht. Zornig preßte sie die Lippen zusammen und zwang sich,
an etwas anderes zu denken.
Sie hatte sich für heute
vorgenommen, Polly ausfindig zu machen, und war entschlossen, ihren Plan auch
auszuführen.
Da sie jedoch nicht wußte, wo sie
ihre Suche beginnen sollte, blieb sie unschlüssig auf dem hölzernen Bürgersteig
vor dem Hotel stehen und schaute sich nachdenklich um.
Seattle war trotz des geschäftigen
Eindrucks, den es machte, keine große Stadt. Lydia entdeckte, daß die Ausläufer
der Wälder bis an die Third Street reichten und das Zentrum der Stadt über eine
kleine Kirche verfügte.
Obwohl Lydia ziemlich sicher war,
daß Polly aufgrund ihrer starken Schuldgefühle bestimmt nicht in einer Kirche
zu finden war, betrat sie den kleinen kühlen Raum und setzte sich auf eine der
schlichten Holzbänke.
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich
sein?«
Lydia erschrak. Eine rundliche Frau
mit freundlichem Lächeln und einem pockennarbigen Gesicht stand hinter ihr im
Gang. »Mein Name ist McQuire«, sagte Lydia nach kurzem Zögern und stand auf, um
der Frau ihre Hand zu reichen. »Ich suche meine Freundin Polly ...« Sie brach
ab, weil sie nicht wußte, wie Polly mit Mädchennamen hieß. »Polly Quade«, sagte
sie schließlich. »Kennen Sie sie?«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Nein.« Falls ihr der Name >Quade< etwas sagte, was bestimmt der Fall
war, ließ sie es sich nicht anmerken. »Ist Ihre Freundin auf der Durchreise?
Nach San Francisco vielleicht oder in den Orient?«
Lydia seufzte. »Ich wünschte, ich
wüßte es.«
»Ist sie allein?«
Lydia dachte an Pollys Trauer und
den leeren Ausdruck in Devons Augen, als sie ihn zuletzt gesehen hatte. »Ja,
ich glaube schon. Sie hat bestimmt versucht, ein billiges Hotel zu finden und
vielleicht auch Arbeit.«
Die andere Frau nickte. »Es kann
sein, daß sie in den Wäldern für eine der Holzgesellschaften kocht oder im
Hotel Imperial beschäftigt ist. Vielleicht hat sie auch geheiratet. Sobald eine
alleinstehende Frau in Seattle erscheint, so häßlich oder boshaft sie auch sein
mag, stehen die Männer Schlange, um sie in den heiligen Stand der Ehe zu
entführen.«
Lydia wurde unbehaglich zumute. Seit
sie das Hotel verlassen hatte, verfolgten sie neugierige Männerblicke, Pfiffe
und dreiste Zurufe. »Ich glaube, das Hotel Imperial wäre zu teuer für meine
Freundin. Gibt es keine Pension in Seattle?«
»Doch, eine, aber keine anständige
Frau würde dort ein Zimmer nehmen. Die Pension liegt direkt hinter dem States
Rights Saloon, und ich habe gehört, daß die Matratzen von Wanzen nur so
wimmeln sollen.«
Die Frau hatte recht, in einer
solchen Kaschemme wäre Polly bestimmt nie abgestiegen. Auch Lydia hätte eher in
einem Heuschober übernachtet als an einem solchen Ort.
Sie dankte der Frau und verließ die
Kirche, um zum >Imperial< zurückzukehren und sich dort nach Polly zu
erkundigen.
Aber auch hier ergaben ihre Fragen
nichts; als Gast war Polly nicht registriert und auch als Zimmermädchen oder
Küchenangestellte nicht.
Frauen sind rar in Seattle, dachte
Lydia gereizt; jemand wie Polly konnte doch nicht unbemerkt geblieben sein!
Entschlossen ging sie zum
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