Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
schwarzen
Gabardinerock und eine Bluse mit so wenig Rüschen wie nur möglich.«
Wieder zögerte Kathleen. »Ja, Miss«,
erwiderte sie dann seufzend, und einen Moment später war sie fort.
Eine halbe Stunde später betrat
Annie die große Halle, als ob nichts Ungewöhnliches am Tag zuvor geschehen
wäre. Da der Prozeß beendet war, hielt sich praktisch niemand in der Halle auf,
und Annie durchquerte sie rasch, gefolgt von Kathleen.
Sie hatten schon fast die Kapelle
erreicht, als Lucian auf sie zuschlenderte, so gemächlich, als machte er nur
einen Morgenspaziergang. Wie immer, wenn sie ihn sah, begann Annie ein leichtes
Unbehagen zu verspüren, obwohl er sich in letzter Zeit manierlich benommen
hatte.
»Ja, was ist das denn?« erkundigte
er sich stirnrunzelnd, was ihn Rafael plötzlich sehr ähnlich machte. »Die Dame
ist aufgestanden und schon wieder unterwegs? Nachdem sie um Haaresbreite einem
gewaltsamen Tod entkommen ist?«
Annie verschränkte die Arme und
wippte ungeduldig mit dem Fuß. »Ich bin nicht in Stimmung für Unsinn heute morgen,
Lucian. Lassen Sie uns entweder vorbei, oder lassen Sie sich von uns Arbeit in
der Kapelle zuteilen.«
Er seufzte und trat, nach einer
entnervenden Verzögerung, beiseite. »Ich fürchte, ich würde Ihnen keine große
Hilfe sein.« Annie ging rasch an ihm vorbei, Kathleen an ihrer Seite, aber
Lucian hielt Schritt mit ihnen und packte an der Tür zur Kapelle Annies Arm.
Seine Stimme, eben noch so freundlich, klang nun ernst, und seine Worte
überstürzten sich fast. »Um Himmels willen, Annie, lassen Sie sich von mir aus
der Burg fortbringen, bevor wir von diesen Barbaren überrannt werden! Begreifen
Sie denn nicht, was in diesem Land geschieht — selbst innerhalb der Mauern
dieser Burg? In einigen Tagen, Stunden vielleicht schon, wird hier alles nur so
triefen von Blut!«
Da mag er recht haben, dachte Annie
mit einem merkwürdigen Gefühl der Ruhe. Doch wie dem auch sein mochte, sie
hatte nicht die Absicht, St. James ohne Rafael zu verlassen.
»Sie kennen meine Antwort«, sagte
sie, schüttelte seine Hand ab und betrat die Kapelle.
Im Laufe des Morgens horchte Annie
mit halbem Ohr auf Kanonenfeuer, weil sie einen weiteren Angriff der Rebellen
befürchtete. Doch unglaublicherweise trafen statt dessen noch mehr
Hochzeitsgäste ein.
Später am Nachmittag, als sie neben
dem Springbrunnen auf dem Hof saß, erblickte Annie zum ersten Mal an diesem Tag
den Prinzen. Er stand auf einer der Zinnen, und wie üblich war Mr. Barrett bei
ihm. Als hätte er Annies Blick gespürt, drehte der Prinz sich um und schaute in
ihre Richtung.
Leicht gekränkt, daß er sich noch
nicht nach ihr erkundigt hatte nach ihrem nächtlichen Erlebnis, hielt Annie
seinem Blick ganz offen stand und dachte nicht daran, die Augen abzuwenden.
Rafael begann die Stufen
hinabzugehen und bedeutete Mr. Barrett zurückzubleiben. Als er näherkam, sah
Annie den grimmigen Ausdruck im Gesicht des Prinzen, und die gleiche Spannung
wie in seinen Zügen spiegelte sich auch in seiner Körperhaltung wider.
Um ihn abzulenken und weil sie sich
wirklich Sorgen machte, fragte Annie rasch: »Wie geht es Felicia? Wo ist sie?«
Einen Moment lang wirkte Rafael
sogar noch ernster als zuvor. »Keine Sorge«, antwortete er gereizt, »ich habe
sie nicht in Ketten gelegt. Sie ist in einem bequemen Zimmer und hat eine Zofe,
die sich um sie kümmert. Wenn das nächste Schiff vor Anker geht — und ich
hoffe sehr, daß es eins aus der Trevarrenflotte ist —, wird Felicia an Bord
gebracht und in eine Klinik nach Frankreich begleitet werden.«
Annie spürte, wie sie errötete. »Ich
wäre niemals auf die Idee gekommen, daß du die arme Frau in Ketten legen könntest«,
erwiderte sie, und ihre Stimme zitterte von der Anstrengung, ruhig zu bleiben.
Sie holte tief Atem und blies ihn langsam wieder aus. »Hast du einen Grund, den
Besuch meines Vaters zu erwarten?«
»Abgesehen davon, daß ich ihm mehrfach
geschrieben und ihn gebeten habe, seine Tochter abzuholen?« entgegnete Rafael
kalt. »Nein.«
Annie war zutiefst verblüfft. Sie
hätte wissen müssen, dachte sie, wie begierig Rafael war, sie loszuwerden. Es
war schwer zu glauben, daß dies derselbe Mann war, der sie leidenschaftliche
Liebe gelehrt und sie nach dem tragischen Zwischenfall mit Leutnant Covington
so zärtlich in den Armen gehalten hatte.
»Stehen wir noch immer unter
Belagerung?« erkundigte sie sich ruhig, denn Rafael, das merkte sie, versuchte
nur,
Weitere Kostenlose Bücher