Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
hauchte einen Kuß auf ihre Fingerknöchel.
»Hallo, Felicia«, erwiderte er. Dann ging er neben ihrem Sessel in die Knie,
ihre Hand noch immer in der seinen.
»Was ist heute nacht geschehen?« erkundigte er sich freundlich.
Sie bedachte ihn mit einem
strahlenden, erschreckend leeren Lächeln. »Ich habe meinen Bruder vor dem
Schafott bewahrt«, erklärte sie. Ihr Lächeln verblaßte. »Aber dann mußte ich
ihn töten. Ich konnte nicht zulassen, daß er Annie verletzte — das war nicht
abgemacht.«
Rafael streckte die Hand aus und
strich ihr leicht über das weiche, blonde Haar. »Natürlich nicht. Du hast
niemanden verletzen wollen, nicht wahr, Liebes?«
Tränen füllten plötzlich Felicias
braune Augen. »Nein. Aber es ging alles schief, Rafael — so viel Schreckliches
passierte. Ich wünschte, ich hätte Jeremy niemals aus der Zelle
herausgelassen, aber er war sehr überzeugend, als ich mich zu ihm schlich, um
ihn zu besuchen. Er sagte, du würdest nicht eher ruhen, bis er entweder
aufgehängt oder sogar gevierteilt würde.«
Covington war nicht zum Tod am
Galgen verurteilt worden, und Folterungen, gleich welcher Art, hatten niemals
zur Diskussion gestanden, aber von all dem sagte Rafael nichts. Felicia war
ganz offensichtlich nicht mehr zu rationalem Denken fähig.
Er drückte ihre Hand und sagte
nichts, weil er zu erschüttert war, um Worte zu finden.
»Ich bin so müde«, sagte Felicia und
gähnte anmutig. Mit ihren zerdrückten Kleidern und ihrem unordentlichen Haar
ähnelte sie mehr einem erholungsbedürftigen Kind als einer Frau, die gerade
ihren geliebten Bruder mit einem Florett durchbohrt hatte. »Glaubst du, ich
kann jetzt schlafen gehen?«
»Ja«, erwiderte Rafael mit spröder
Stimme, richtete sich auf und war auch Felicia beim Aufstehen behilflich. »Ich
glaube, das ist eine sehr gute Idee, Liebes.«
Sie stand vor ihm und schaute ihm in
die Augen. »Wirst du mich in den Kerker sperren, Rafael?« fragte sie schlicht,
ganz ohne Groll oder Schuldbewußtsein. »Werde ich jetzt hängen für das, was ich
getan habe?«
Rafael wandte den Blick ab, weil er
wieder einmal Mühe hatte, seine Emotionen zu beherrschen. »Nein«, sagte er
schließlich. »Was immer auch geschehen mag, du wirst sicher sein. Das
verspreche ich dir.« Er warf Barrett einen bittenden Blick zu, der ihn richtig
deutete und vortrat, um sanft Felicias Arm zu nehmen.
»Kommen Sie, Mylady«, sagte der Soldat
leise. Über Felicias blonden Kopf hinweg schaute er den Prinzen an, und obwohl
keiner der beiden Männer etwas sagte, tauschten sie eine stumme Information
aus. Rafael wußte, daß Barrett Sorge tragen würde, Felicia in einem bequemen
Zimmer mit Wachen vor den Türen unterzubringen, und sich dann bei ihm
zurückmelden würde.
Annie erwachte schon früh am nächsten
Morgen, aufgewühlt von einer Flut von Erinnerungen an die vergangene Nacht,
und halb benommen von dem Schlafmittel, das man ihr gegeben hatte. Sie hätte
nichts lieber getan, als im Bett zu bleiben, doch ihr war schon lange klar, wie
ungesund es war, sich vom Leben zurückzuziehen, und deshalb stand sie auf.
Kathleen, die in einem Sessel am
Kamin geschlafen hatte, erwachte und begann sofort zu protestieren. »Nein,
Miss, Sie dürfen heute nicht so tun, als ob es ein normaler Tag wäre! Sie haben
immerhin einen furchtbaren Schock erlebt!«
Annie lächelte und goß Wasser in die
große Schüssel auf dem Waschtisch. »Und deshalb muß ich so tun, als ob es ein ganz
gewöhnlicher Tag wäre«, entgegnete sie. »Es ist so ähnlich, als wenn man von
einem Pferd abgeworfen wurde. Dann sollte man auch sofort wieder in den Sattel
steigen.«
Ein resignierter Ausdruck erschien
auf Kathleens Gesicht, obwohl ihre Augen noch immer vor Eifer funkelten. »Aber
Sie wären fast ermordet worden«, gab sie trotzig zu bedenken. »Das ist wohl
kaum dasselbe, wie von einem Pferd abgeworfen zu werden, oder?«
Annie hatte sich bereits rasch
gewaschen und schaute sich jetzt im Zimmer nach dem Kleid um, das sie abends
getragen hatte. »Ich habe nichts anzuziehen, Kathleen. Würdest du bitte so
freundlich sein, mir das braune Kleid und feste Schuhe zu holen?«
Kathleen zögerte nur kurz. »Das
Kleid ist in der Wäsche, Miss. Es waren eine Menge häßlicher Flecken darauf,
falls Sie das vergessen haben sollten.«
Annie rümpfte die Nase.
Krankenpflege war keine saubere Angelegenheit, und das Kleid war tatsächlich
sehr schmutzig gewesen. »Dann hol mir etwas anderes — meinen
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