Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
Blick seines Captains hin aus dem Saal. Rafael riß sich von Barrett los,
verzichtete jedoch darauf, seinen Bruder zu verfolgen.
»Großer Gott, Rafael«, knurrte
Barrett, »ist es denn noch nicht genug, daß du darauf bestehst, in Bavia zu
bleiben, bis die Rebellen dich fassen und töten werden? Bist du so begierig,
dich zu opfern, daß du sogar zu einem Mord unter deinem eigenen Dach bereit
bist, damit sie dich dafür hängen können?«
Rafael murmelte etwas, sein Blick
glitt zu Annie und blieb auf ihrem Gesicht haften. In diesem Moment sah sie in
seinen Augen das ganze Ausmaß seines Leidens, und der Anblick zwang sie
beinahe in die Knie.
Rafael schien unmenschliche Qualen
auszustehen.
»Annie«, flüsterte er gebrochen.
Sie trat einen Schritt auf ihn zu
und hielt dann inne. Rafael war entschlossen, in Bavia zu sterben. Sie schlug
eine Hand über ihren Mund, um ein Aufschluchzen zu ersticken, und floh. In der
Tür stieß sie beinahe mit Miss Felicia Covington zusammen.
Miss Covingtons hübsche Stirn wies
eine steile Falte auf; ihre dunklen Augen drückten zärtlichste Besorgnis aus.
Aus der Nähe war sie schön wie ein Engel von Botticelli und offenbar genauso
mitfühlend, denn sie ergriff einen Moment lang Annies Schultern, um sie zu stützen,
und ging dann weiter in den Saal.
Annie drückte sich in die Schatten
bei der Tür, weil sie es nicht über sich brachte, jetzt zu gehen.
»Rafael«, rief Miss Covington, eilte
zu dem Prinzen und schloß die Hände um seine Oberarme. »Was hast du Lucian angetan?«
Rafael versuchte, sich ihr zu
entziehen, aber sie hielt ihn so unerbittlich fest, wie es nur eine sehr intime
Freundin wagen durfte. »Nichts«, zischte er. »Laß mich allein, Felicia. Bitte.«
Sie strich ihm über das zerzauste
Haar, in einer Geste, die Annie so zu Herzen ging, daß sie sich noch tiefer in
die Schatten drückte und ganz unbewußt den Atem anhielt.
Felicia nickte Barrett zu, der
widerstrebend den Raum verließ und an Annie vorbeiging, ohne sie zu sehen.
»Warum, Rafael?« flüsterte Miss Covington
und schlang den Arm um seine Taille. »Warum haßt du Lucian so? Er ist dein
Halbbruder.«
Rafael seufzte und fuhr sich mit
einer Hand durchs Haar. Obwohl etwas von seinem Zorn verflogen war, konnte
Annie sehen, daß er noch immer unter großer Anspannung stand. »Ich hasse Lucian
nicht«, antwortete er. »Er haßt mich. Und manchmal kann ich ihm nur zustimmen.«
Felicia schaute lächelnd zu Rafael
auf, strich ihm noch einmal übers Haar und stellte sich auf die Zehenspitzen,
um seine Wange zu küssen. Annie, die noch immer zusah, hätte die Frau gern
gehaßt, aber es gelang ihr nicht.
»War es dein Bruder, den du töten
wolltest, oder wolltest du dich selbst umbringen?« fragte Felicia sanft.
Wieder seufzte Rafael und schlang
den Arm um Felicias schlanke Taille. Miss Rendennon würde sie nie
fleischig nennen, dachte Annie betrübt und glitt hinter eine Ritterrüstung,
als die beiden an ihr vorbeigingen.
»Ich bin ein ausgemachter Schuft«,
gestand Rafael.
Durch Tränen des Neids und der
Verzweiflung schaute Annie zu, wie Felicia ihren Arm unter Rafaels schob und
lächelnd zu ihm aufsah.
»Und warum glaubst du das, Hoheit?«
scherzte sie.
Obwohl sie sich rasch entfernten,
hörte Annie Rafaels Antwort mit brutaler Klarheit. »Lucian beschuldigte mich,
jemanden zu benutzen«, sagte er. »Und er hatte recht.«
Das Eingeständnis traf Annie mit der
Macht einer Streitaxt. Sie sank an die Wand, ungesehen, und atmete tief ein
und aus, bis der erste Schmerz nachließ. Als sie sich ein wenig erholt hatte
und sicher sein konnte, daß Rafael und Felicia in einem anderen Teil der Burg
waren, schlich sie langsam zu ihrem Zimmer.
Dort wusch sie ihr Gesicht,
entfernte die Nadeln aus ihrem Haar, bürstete es und steckte es wieder auf.
Danach nahm sie ihre Schreibkassette und begab sich in den Garten. Sie hatte
vor, einen Brief an ihre Eltern in Nizza zu verfassen, um ihnen mitzuteilen,
daß sie bald heimkehren würde. Sie konnte nicht in Bavia bleiben; das war ihr
jetzt klar. Es wäre unerträglich gewesen, noch länger zu verweilen, selbst für
ein so wichtiges Ereignis wie Phaedras Hochzeit, nachdem sie nun erfahren
hatte, daß Rafael ihr Mitgefühl entgegenbrachte und sie tatsächlich benutzt
hatte.
Sie durchquerte gerade die große
Eingangshalle, als sie merkte, daß sie hungrig war, trotz allem, was an diesem furchtbaren
Morgen geschehen war. Ihr würde bald schwindlig werden, und
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