Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
vielleicht bekam
sie sogar Kopfschmerzen, wenn sie nicht etwas aß.
Annie änderte ihre Richtung und ging
auf die Küche zu, aber dort traf sie Lucian an, der sich seine edle Stirn von einer
mitfühlenden Magd kühlen ließ. Er sah Annie, bevor sie sich zurückziehen
konnte, und dann war es zu spät, denn ihr Stolz hätte ihr jetzt keinen Rückzug
mehr erlaubt.
Mit einem kühlen Nicken ging sie an
ihm vorbei und in die Speisekammer, wo sie sich etwas braunes Brot nahm, einen
Apfel und ein Stück Käse. Als sie wieder herauskam, hatte Lucian die Magd
fortgeschickt und verstellte Annie den Weg.
Das Betrachten seines feinknochigen,
aristokratischen Gesichts aus großer Nähe brachte ihr eine plötzliche Einsicht.
Lucian würde nie etwas anderes als eine Karikatur seines älteren Bruders sein,
erkannte sie und empfand leises Mitgefühl für ihn.
»Lassen Sie mich vorbei«, verlangte
sie. »Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
»Aber ich Ihnen«, entgegnete Lucian
und verschränkte ungerührt die Arme. Trotz der Prügel, die er von Rafael
erhalten hatte, lächelte er. »Ich wollte Sie heute morgen nicht beleidigen,
Annie; ich habe nur versucht, Ihre Tugend zu beschützen.«
Die Gegenstände in Annies Hand
begannen zu rutschen, und einen Moment lang war sie abgelenkt. Dann erhob sie
den Blick zu Lucian. »Ich kann auf Ihre seltsame Art von Galanterie verzichten,
Mr. St. James«, erklärte sie ruhig. »Und ganz abgesehen davon bin ich durchaus
imstande, mich selbst zu schützen.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »So wie
im Haus am See?«
Annie spürte, wie sie errötete, und
haßte Lucian dafür. Sie hatte genug Demütigungen erlebt seit ihrer Ankunft in
Bavia, auch ohne seinen Wink, daß alle in der Burg über ihren intimen
Nachmittag mit Rafael Bescheid wußten.
»Sie sind eine Klatschbase, Lucian«,
sagte sie. »Unter anderem. Sie bräuchten eine vernünftige Beschäftigung.«
Wieder lächelte er, aber es lag ein
harter Zug um seinen Mund, der sie erschreckte. »Es ist ungemein erfrischend«,
sagte er, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen, »daß Sie nicht einmal abstreiten,
was zwischen Ihnen und Rafael vorgefallen ist. Ich habe Sie vor ihm gewarnt,
Annie. Warum haben Sie nicht auf mich gehört?«
Sie hob ihr Kinn. »Ich habe nichts
mit Ihnen zu besprechen. Lassen Sie mich vorbei.«
Er trat beiseite, aber seine Antwort
ließ sie nach wenigen Schritten wieder innehalten. »Rafael wird Sie erneut
verführen. Trotz seiner hübschen Ausreden, seinem Gerede von seinem eigenen
Verhängnis und seiner noblen Prophezeiungen eines anderen Geliebten, der in
naher Zukunft auf Sie wartet, wird er Sie zu seiner Mätresse machen, Annie. Er
wird Ihnen ein prächtiges Haus in Paris, London, Rom oder Madrid einrichten
und Sie mit Juwelen, Kleidern und Geschenken überhäufen, von denen jedoch
nichts auch nur die Hälfte des Glanzes besitzen wird wie die Worte, die er
Ihnen sagen wird, spät nachts, nachdem er Sie geliebt hat. Und sobald Sie ihm
gegeben haben, was er will - einen kräftigen, gesunden Sohn mit frischem,
amerikanischem Blut in seinen Adern -, wird er Ihnen das Kind nehmen, um es
nach eigenem Belieben zu erziehen, und Sie beiseite schieben wie einen Haufen
Schmutz, über den er auf der Straße gestolpert ist.«
Annie drehte sich langsam um und
erwiderte Lucians Blick. »Sie irren sich«, sagte sie. »Wenn Rafael sich einen
Erben wünschte - und ich glaube nicht, daß er lange genug leben wird, um einen
zu zeugen -, würde er sich keine Mätresse nehmen. Er würde heiraten, damit das
Kind legitim ist.«
Lucian lachte; es war ein Ton, der
wie Eiswasser über Annies Rücken rann. »In anderen Ländern, anderen Familien
mag es vielleicht so sein. Aber in unserer ...?« Er hielt inne und zog die
Schultern hoch. »Hier ist alles etwas anders. Rafael ist selbst ein Bastard,
dem Leib einer Zigeunerin entsprungen, die meines Vaters Geliebte war — nur
eine von vielen, klar — und doch bestand nie der geringste Zweifel, daß er
eines Tages die Krone erben würde. Es hat ihr das Herz gebrochen — Papas erster
Gattin, der Frau, die angeblich Rafaels Mutter war. Sie zog sich in ein
Kloster zurück und starb irgendwann an ihrer Trauer.«
Annie wich einen Schritt zurück, und
der Apfel fiel ihr aus der Hand und rollte unter den Küchenherd. »Dies alles
ist nicht Rafaels Schuld«, sagte sie erschüttert. Nichts in ihrer Vergangenheit
hatte sie auf derartige Intrigen und Abscheulichkeiten vorbereitet; ihre
eigene Familie war
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