Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
es vom Kapuzenrand herunter, vorn beim
Hals – er hatte seinen Schal daheim vergessen – und auch bei seinen Schuhen sickerte
Wasser herein, sodass er ziemlich bald feuchte Socken hatte. Nein, das war kein
Wetter, um durch die Stadt zu laufen. Deshalb sah er zu, dass er schleunigst in
den rumpelnden, trockenen Bauch eines Vaporettos gelangte. Mit einem Boot der Linie
eins tuckerte er den Canal Grande bis zum Bahnhof, wo er in die Linie 41 umstieg.
Diese Ringlinie, die durch Cannarégio hinaus zu den Fondamenta Nuove führte, wurde
fast ausschließlich von Einheimischen genutzt. In Ermangelung einer prachtvollen
Kulisse fuhren hier kaum Touristen. Lupino grinste. So hatte er seine Heimatstadt
gern. Keine Touristen, nur Venezianer. Er setzte sich an einen Fensterplatz und
beobachtete mit liebevoll melancholischem Blick die abgeblätterten und teilweise
auch ziemlich verfallenen Fassaden der Häuser entlang des Canal di Cannarégio. Immer
wieder musste er mit dem Ärmel seiner Regenjacke die anlaufende Fensterscheibe abwischen.
Kein Wunder, draußen klatschten die kalten Regentropfen ans Glas, herinnen aber
war es warm. Die Kleider der Passagiere dampften, und es roch nach feuchtem Stoff.
Als das Boot draußen in der Lagune anlangte und entlang den Fondamenta Nuove fuhr,
schaukelte es kräftig. Schließlich legte das Linienschiff bei der Station Ospedale
an. Aufgewärmt, durchgetrocknet und ausnahmsweise auch guter Laune sprang Lupino
an Land und rutschte dabei aus. Mit ein paar hektischen Fußbewegungen konnte er
einen Sturz gerade noch vermeiden. Eine Windböe peitschte einen Guss Regenwasser
in sein Gesicht, und mit dem rechten Fuß landete er in einer knöcheltiefen Lache.
Damit war seine gute Laune beim Teufel. Fluchend stapfte er zum Spitalseingang und
fragte den Portier nach Philipp Mühleis. Der musste einige Minuten telefonieren,
bis er Trakt, Abteilung und Zimmer nennen konnte.
Als er fünf
Minuten später das Krankenzimmer betrat, erging es ihm wie Bender zuvor. Lupino
erschrak. Philipp Mühleis machte einen sehr entrückten und darüber hinaus auch gebrechlichen
Eindruck. Müde wendete Mühleis seinen Kopf Lupino entgegen. Dann sprach er mit leiser
Stimme:
»Danke,
dass Sie gekommen sind. Mein Akku ist leer, ich konnte Sie nicht anrufen.«
Lupino nahm
sich einen Sessel, setzte sich nieder und fragte höflich:
»Wie geht
es Ihnen, Herr Mühleis?«
»Schlecht.
Wie geht es Ihnen mit Ihren Ermittlungen?«
Das war
genau die Frage, die Lupino nicht hören wollte. Trotzdem quälte er sich, um ein
höfliches Lächeln auf seine Lippen zu zaubern, und antwortete:
»Nun, es
gibt neue Erkenntnisse«, in seiner Not fiel ihm nur das ein, was er von Ranieri
vor knapp einer Stunde unter dem Siegel der Verschwiegenheit erfahren hatte. »Am
Körper Ihres Jungen und auch an den Körpern der anderen beiden wurden Gipsspuren
gefunden.«
Mühleis
sah ihn fragend an.
»Deshalb
forschen wir nun, also die Polizei und natürlich auch ich, nach, wer in Venedigs
Spitälern mit Gips zu tun hat. Beziehungsweise wer zu den Gipsräumen Zugang hat.«
Mühleis
wendete seinen Kopf und sah zum Fenster hinaus. Nach einer langen Pause sah er Lupino
wieder an und fragte:
»Sollte
man nicht auch Bildhauer, Vergolder, Bilder- und Rahmenmacher unter die Lupe nehmen?«
Lupino war
sprachlos. Natürlich, Mühleis hatte recht. Auch diese Berufsgruppen arbeiteten mit
Gips. Das hatte Ranieri völlig übersehen. Und plötzlich ging ein Ruck durch Lupino.
Voll Eifer rückte er näher an Mühleis heran und sagte:
»Okay, ich
überlasse der Polizei die Spitäler. Dafür kümmere ich mich um diese anderen Berufsgruppen.
Sind Sie damit einverstanden?«
Ein zartes
Lächeln spielte auf Mühleis’ Lippen. Dann schloss er die Augen, und keine zwei Minuten
später atmete er gleichmäßig und ruhig. So wie es Schlafende zu tun pflegen.
Zweiundvierzig
Leise summte die Weckfunktion seines
Handys. Verschlafen drehte er sich zu dem Geräusch hin, vorsichtig suchten seine
Finger den Störenfried. Endlich spürte er das flache, kühle Ding, das er mit einem
Fingerdruck ruhigstellte. Langsam erhob er sich und ging leise aus dem Zimmer. Nicht
ohne vorher noch einmal stehen zu bleiben und zu lauschen. Und da war es. Das Geräusch,
das er hören wollte. Regelmäßiges, feminines Schnarchen. Dann ein kurzes Schmatzen,
leises Atmen und schließlich wieder Schnarchgeräusche. Zufrieden zog er die Schlafzimmertür
hinter sich zu und tapste in die Küche. Er
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