Qual (German Edition)
drückte er weiter.
Als er schon fast glaubte, dass das Fenster irgendwie versiegelt und das Schloss deshalb nicht vorgelegt war, öffnete es sich einen winzigen Spalt. Das Holz ächzte leise. Blaze hörte sofort auf.
Er überlegte.
Es würde schnell gehen müssen: Fenster öffnen, hineinklettern, Fenster wieder schließen. Andernfalls würde die plötzlich eindringende kalte Januarluft sie mit Sicherheit wecken. Wenn das Fenster beim Hochschieben allerdings laut quietschen würde, dann würden sie auch davon aufwachen.
»Mach schon«, sagte George vom Fußende der Leiter. »Gib dein Bestes – und los.«
Blaze zwängte seine Finger in den Spalt zwischen Fensterunterkante und Rahmen, dann drückte er nach oben. Das Fenster hob sich ohne einen Laut. Er schwang ein Bein ins Innere, ließ seinen Körper folgen, drehte sich um und schloss das Fenster. Beim Herunterlassen ächzte es deutlich vernehmbar und setzte mit einem dumpfen Krachen auf. Er erstarrte in der Hocke, hatte Angst, sich umzudrehen und zum Bett zu sehen, die Ohren gespitzt, um noch den geringsten Laut aufzufangen.
Nichts.
Doch, o ja, da waren Geräusche, sogar jede Menge Geräusche. Das Atmen, zum Beispiel. Zwei Menschen, die beinahe synchron atmeten, als führen sie auf einem Tandem. Das leise Quietschen der Matratzen. Das Ticken einer Uhr. Das sanfte Rauschen von Luft – das dürfte die Zentralheizung sein. Und dann das Haus selbst, wie es ausatmete. Zur Ruhe
kam, wie es das seit fünfzig oder fünfundsiebzig Jahren Nacht für Nacht tat. Verflucht, vielleicht waren es auch schon hundert. Wie es sich auf seinen Knochen aus Backstein und Holz niederließ.
Blaze drehte sich um und schaute sie an. Die Frau war bis zur Taille aufgedeckt. Das Oberteil ihres Nachthemdes war zur Seite gerutscht und hatte eine Brust entblößt. Blaze sah sie an, war fasziniert vom Anblick ihres Nippels, der sich in dem kurzen Luftzug aufgerichtet hatte …
»Beweg dich, Blaze! Mein Gott!«
Mit großen Schritten stakste er durch den Raum wie der Liebhaber in einer Karikatur, der sich unter dem Bett versteckt und den Geräuschen der ehelichen Vereinigung zugehört hatte, die Luft angehalten und die Brust herausgedrückt wie ein Comic-General.
Es schimmerte golden.
Auf einer der Kommoden stand eine kleine Pyramide aus drei in Gold gefassten Fotos. Unten befanden sich je ein Foto von Joseph Gerard III. und seiner dunkelhäutigen Frau. Darüber eins von Joseph Gerard IV., einem kahlköpfigen Säugling mit einer bis unters Kinn hochgezogenen Babydecke. Er starrte mit großen dunklen Augen in die Welt, die er erst vor Kurzem betreten hatte. Ohne nachzudenken, nahm Blaze die Pyramide und steckte sie ein.
Er erreichte die Tür, drehte den Knauf und verharrte, um noch einen Blick zurückzuwerfen. Sie hatte einen Arm über ihre entblößte Brust gelegt, verbarg sie vor seinen Blicken. Ihr Mann schlief mit offenem Mund auf dem Rücken, und für einen kurzen Augenblick, bevor er einen kräftigen Schnarchton von sich gab und dabei die Nase rümpfte, sah
er aus wie tot. Dabei musste Blaze an Randy denken, und wie Randy auf dem gefrorenen Boden gelegen hatte, während die Flöhe seinen Körper verließen.
Hinter dem Bett auf dem inneren Fenstersims und dem Boden davor lagen Kleckse von Schnee. Sie schmolzen bereits.
Blaze zog die Tür behutsam auf, bereit, beim ersten Anzeichen eines Quietschens sofort innezuhalten, aber nichts quietschte. Sobald der Spalt breit genug war, glitt er hindurch. Der Raum draußen war eine Mischung aus Korridor und Balkon. Unter seinen Füßen lag ein dicker, angenehmer Teppich. Er schloss die Schlafzimmertür hinter sich, näherte sich der dunkleren Dunkelheit des Geländers, das um die Galerie herumführte, und schaute nach unten.
Er sah eine Treppe, die sich in zwei anmutigen Bögen aus einer weitläufigen Eingangshalle erhob, die sich im Dunkeln verlor. Der gebohnerte Boden warf ein spärlich schimmerndes Licht zurück. Auf der anderen Seite befand sich die Statue einer jungen Frau. Ihr genau gegenüber, auf dieser Seite der Galerie, stand die Statue eines jungen Mannes.
»Kümmer dich nicht um die Statuen, Blaze, finde das Kind. Die Leiter steht da draußen rum …«
Eine der beiden Treppen führte zu seiner Rechten hinunter ins Erdgeschoss, also wandte Blaze sich nach links und trottete den Korridor entlang. Hier draußen gab es kein anderes Geräusch als das schwache Flüstern seiner Schritte auf dem Teppichboden. Er konnte nicht mal mehr
Weitere Kostenlose Bücher