Qual (German Edition)
heraus, dass jeden Morgen um sieben Uhr ein Bus Richtung Boston abfuhr. Kurz nach Mitternacht verließen sie das Hetton House, da John meinte, es wäre am sichersten, die fünfzehn Meilen in die Stadt zu Fuß zu gehen, anstatt durchs Trampen Aufmerksamkeit zu erregen. Zwei Jungs nach Mitternacht auf der Straße waren Ausreißer. Punkt.
Sie stiegen die Feuerleiter hinunter, mit Herzklopfen bei jedem rostigen Geklapper, und sprangen dann von der untersten Plattform hinab. Sie liefen quer über den Spielplatz, wo Blaze viele Jahre zuvor seine ersten Prügel eingesteckt hatte. Blaze half John, über den Maschendrahtzaun am anderen Ende zu klettern. Unter einem heißen Augustmond überquerten sie die Straße und begannen zu marschieren. Sobald in größeren Abständen am Horizont vor ihnen oder irgendwo hinter ihnen die Scheinwerfer eines Wagens aufleuchteten, tauchten sie in den Graben ab.
Um sechs Uhr morgens waren sie auf der Congress Street, Blaze immer noch frisch und aufgeregt, John mit dunklen Ringen unter den Augen. Blaze trug das Geld in einem Bündel in seiner Jeans. Die Brieftasche hatten sie in den Wald geworfen.
Als sie den Busbahnhof erreichten, ließ John sich erschöpft auf eine Bank fallen, und Blaze setzte sich neben ihn. Johns
Wangen waren wieder gerötet, diesmal allerdings nicht vor Aufregung. Er schien Probleme beim Atmen zu haben.
»Geh rüber und besorg uns zwei Rückfahrkarten für den Bus um sieben«, sagte er zu Blaze. »Gib ihr einen Fünfziger. Ich glaube kaum, dass es mehr kosten wird, aber halt schon mal einen Zwanziger bereit, nur für alle Fälle. Halt ihn in der Hand. Lass sie das Bündel nicht sehen.«
Ein Polizist kam auf sie zu, klopfte dabei auf seinen Gummiknüppel. Blaze spürte, wie sich seine Eingeweide zusammenkrampften. Hier hörte es also auf, bevor es richtig angefangen hatte. Man würde ihnen das Geld abnehmen. Schon möglich, dass der Bulle es ablieferte, aber genauso gut möglich, dass er es selbst einsackte. Und was sie betraf, sie würde man zum HH zurückfahren, vielleicht in Handschellen. Düstere Visionen des North Windham Training Center stiegen vor seinem inneren Auge auf. Und die Büchse.
»Morgen, Jungs. Bisschen früh unterwegs, hä?« Die Uhr an der Wand zeigte 6 Uhr 22.
»Klar«, sagte John. Er deutete mit einem Kopfnicken zum Kartenschalter hinüber. »Muss man dorthin, wenn man eine Karte kaufen will?«
»Und ob«, sagte der Bulle mit einem kleinen Lächeln. »Wo soll’s denn hingehen?«
»Boston«, antwortete John.
»Oh? Und wo sind eure Eltern, Jungs?«
»Ach, der und ich, wir beide sind nicht miteinander verwandt. Er heißt Martin Griffin. Taub, und auch stumm.«
»Ist das so?« Der Bulle setzte sich und musterte Blaze aufmerksam. Er guckte nicht misstrauisch; er sah einfach nur aus wie jemand, der noch nie zuvor einem Menschen begegnet
war, der die Dreierkombination taub, stumm und geistig zurückgeblieben vorzuweisen hatte.
»Seine Mama ist letzte Woche gestorben«, meinte John ernst. »Er wohnt jetzt bei uns. Meine Leute arbeiten, aber weil ja jetzt Sommerferien sind, haben sie zu mir gesagt, macht’s dir was aus, mit ihm was zu unternehmen, und ich hab geantwortet, nee, gar nicht.«
»Eine große, verantwortungsvolle Aufgabe für einen Jugendlichen«, meinte der Bulle.
»Ich hab auch ein bisschen Angst«, sagte John, und Blaze ging jede Wette ein, dass er in diesem Punkt durchaus die Wahrheit sagte. Er selbst hatte auch Angst. Ziemlich viel sogar.
Der Bulle deutete mit dem Kopf auf Blaze und sagte: »Versteht er …?«
»Was mit seiner Mutter passiert ist? Nein, nicht wirklich.«
Der Bulle sah traurig aus.
»Ich bringe ihn zu seiner Tante. Da wird er dann ein paar Tage bleiben.« Johns Gesicht hellte sich auf. »Ich darf mir dafür vielleicht ein Spiel der Red Sox ansehen. Ist so was wie ’ne Belohnung für … Sie wissen schon …«
»Tja, ich wünsch’s dir, mein Junge. Alles hat irgendwo auch seine guten Seiten. Ich drück dir die Daumen«, sagte der Bulle.
Beide schwiegen und dachten über diese letzten Bemerkungen nach. Blaze, frisch verstummt, schwieg ebenfalls.
Dann sagte der Bulle: »Er ist ein großer Junge. Glaubst du, du wirst mit ihm klarkommen?«
»Er ist groß, aber er passt auch auf. Wollen Sie mal sehen?«
»Also …«
»Hier, schauen Sie mal, ich lasse ihn jetzt aufstehen. Passen Sie auf!« John machte direkt vor Blazes Nase eine Reihe völlig bedeutungsloser Bewegungen mit den Fingern. Als er aufhörte,
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