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Quantum

Quantum

Titel: Quantum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannu Rajaniemi
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nach
außen dringen: leises Unbehagen, eine Last, Schuld. Xuexue sieht im Geist den
Alten aus dem Meer auf seinem Rücken sitzen. Das alles kommt ihr sehr bekannt
vor. Und mit einem Mal ist es wichtiger, mit dem Fremden zu sprechen, als den
Roboter anzulächeln.
    »Natürlich kann ich das«, sagt sie. »Aber bleiben Sie doch noch ein
wenig! Was führt sie in die Oubliette?« Während sie spricht, verfasst sie im
Geist einen Gevulot-Kontrakt und bietet ihn Paul an. Er zwinkert überrascht.
»Was ist das?«
    »Kein Außenstehender wird erfahren oder im Gedächtnis behalten,
worüber wir sprechen werden«, erklärt sie. »Selbst ich werde es vergessen, wenn
Sie mir nicht gestatten, mich daran zu erinnern.« Sie lächelt. »So halten wir
das hier. Niemand braucht sich als Fremder zu fühlen.«
    »Das ist wie ein tragbarer Beichtstuhl.«
    »So in etwa.«
    Paul setzt sich neben Xuexue auf den Boden und schaut zu dem Roboter
auf.
    »Wissen Sie«, sagt er, »eine wahrhaft uneigennützige Person trifft
man nur ganz selten. Ich finde das bewundernswert.«
    Xuexue lächelt. »Sie halten sich nicht für uneigennützig?«
    »Ich habe auf der Straße der Evolution schon vor ziemlich langer
Zeit eine andere Abzweigung genommen. Irgendwo zwischen den Dinosauriern und
den Vögeln.«
    »Es ist nie zu spät«, sagt sie. »Hier gilt das besonders.«
    »Wie meinen Sie das?«, fragt er.
    »Wir sind in der Oubliette, dem virtuellen Ort des Vergessens. Hier
können Sie einem Tyrannen aus der Monarchie oder einem Revolutionsführer
begegnen, ohne es jemals zu erfahren. Oder Sie sitzen neben jemandem, der noch
schlimmer ist, zum Beispiel neben mir.« Sie seufzt.
    Er sieht mit großen Augen zu ihr auf. Sie schält ihr Gevulot ab wie
eine Zwiebel und reicht ihm eine Erinnerung.
    Xuexue verkaufte Unsterblichkeit. Sie bereiste Städte und
Dörfer, die von Erdbeben oder Schlammlawinen verwüstet worden waren, und Fischerhäfen
an ausgetrockneten Seen. Dort untersuchte sie mit dem Tomografen in ihrem
Telefon die Gehirne der Kinder und redete mit den verzweifelten Eltern über ein
Leben ohne Körper. Den Kindern zeigte sie Vid-Aufzeichnungen vom Himmel, wo
ihnen Götter und Göttinnen ein ewiges Leben als Hüter von Programmierungen
schilderten. Die Kinder lachten und zeigten mit den Fingern auf die Bilder. In
jedem Dorf gab es ein paar, die mitgehen wollten. Die sammelte sie mit Hilfe
von Firmendrohnen ein und brachte sie in Automatiktransportern zum Schillernden
Himmelstor.
    Das Himmelstor lag in der Ordos-Wüste. Es bestand aus hastig
hochgezogenen und mit Tarnplanen abgedeckten Kasernen. Die Latrinen stanken.
Die Feldbetten waren schmutzig.
    In den ersten zwei Wochen durften die Kinder nicht duschen, aber
Xuexue und die anderen Ausbilder – die meisten nur Gesichter auf den
Bildschirmen der ferngesteuerten Wächterdrohnen – erklärten ihnen, das spiele
keine Rolle, sie würden solche körperlichen Bedürfnisse bald überwunden haben.
    Die erste Stufe der Verwandlung fand im Klassenzimmer statt. Die
Kinder trugen juckende Schädelkäppchen, die den Maschinen der Firma verrieten,
was sie gerade dachten. Xuexue betreute sie während der harten Ausbildung im
Programmieren: Stunden um Stunden mussten sie im Geist Codeblöcke und
Symbolfolgen erstellen. Für jeden Erfolg belohnte sie der transkraniale
Magnetstimulator mit orgiastischen Lustschüben; wenn sie zu langsam waren oder
versagten, bereitete er ihnen eine kleine Hölle. Im Unterricht wurde nicht
gesprochen, nur vielstimmige Schmerz- oder Lustschreie waren zu hören.
    Unter normalen Umständen waren sie innerhalb von sechs Wochen
bereit. Sie hatten permanente Brandwunden auf den kahl rasierten Schädeln, die
Schläfen waren eingesunken, und die halb geschlossenen Augen zuckten wie im
REM-Schlaf. Nun sagte ihnen Xuexue, sie hätten sich ihren Pfirsich der
Unsterblichkeit verdient, und brachte eines nach dem anderen zum Zelt des
Himmelsdoktors. Kein Kind kam jemals wieder aus diesem Zelt heraus. Am Abend
aktivierte Xuexue die superdichte Datenverbindung zum Firmensatelliten und
schickte die Petabytes hinauf, die sie den jungen Gehirnen entnommen hatten –
frische Gogols zum Spinnen von Codes auf den Software-Farmen in den Wolken.
    Hinterher gestattete sie sich eine kurze Phase des Vergessens, in
der sie sich mit billigem Reiswein und Drogen betäubte, bevor sie wieder auf
Reisen ging.
    Mit zehn Jahren Arbeit für die Firma hätte sie sich wahre
Unsterblichkeit für sich selbst verdient. Ein

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