Quarantaene
hatte Marguerite auch schon Papierfetzen und Lebensmittelverpackungen wie Steppenhexen am Einkaufszentrum entlangwehen sehen. Die Frage war so geläufig, dass niemand sich mehr die Mühe machte, sie explizit zu stellen: Wann wird es zu Ende gehen?
Denn es konnte jederzeit zu Ende gehen.
Tess war erschöpft und benommen vom Ort des Flugzeugabsturzes zurückgekehrt. Marguerite hatte sie in Decken eingewickelt, ihr heiße Suppe zu essen gegeben und sie anschließend ins Bett gesteckt. Tess hatte dann die Nacht durchgeschlafen – im Gegensatz zu Marguerite – und schien am nächsten Morgen wieder ganz die Alte zu sein. Schien war das Schlüsselwort. Zwischen Weihnachten und Neujahr hatte Tess Mirror Girl mit keinem Wort erwähnt, und es hatte keine einschlägigen Vorfälle gegeben; aber Marguerite waren die Sorgenfalten auf Tessas Gesicht nicht entgangen, und sie hatte im Schweigen ihrer Tochter etwas Gewichtigeres gespürt als ihre übliche Schüchternheit.
Nur äußerst widerstrebend hatte sie Tess zu ihrem einwöchigen Besuch bei Ray geschickt, aber es gab dazu keine Alternative. Hätte sie sich gesträubt, würde Ray mit einiger Sicherheit einen seiner Aushilfspolizisten vom Sicherheitsdienst geschickt haben, um Tess mit Gewalt abzuholen. Mit größtem Unbehagen hatte Marguerite daher ihrer Tochter geholfen, ihre wichtigsten Besitztümer in den Rucksack zu packen, und sie dann nach draußen begleitet, als Ray mit seinem kleinen scarabäusfarbenen Auto am Straßenrand hielt.
Ray war nur ein Schattenriss im dunklen Innenraum des Wagens geblieben, nicht willens, ihr sein Gesicht zu zeigen. Er sah irgendwie verschwommen aus, dachte Marguerite, wie eine verblassende Erinnerung. Sie sah, wie Tess ihn mit einer Fröhlichkeit begrüßte, die ihr als entweder aufgesetzt oder herzzerreißend naiv erschien.
Das einzig Positive an der Sache war, dass sie in der nun folgenden Woche mehr Zeit für Chris haben würde. Während sie in die Auffahrt bog, waren ihre Gedanken bei ihm.
Chris. Er hatte einen mächtigen Eindruck auf sie gemacht mit seinen verwundeten Augen und seiner offensichtlichen Courage. Gar nicht zu reden von der Art, wie er sie berührte: wie jemand, der in eine warme Quelle tritt und erst einmal die Temperatur prüft, bevor er ganz ins Wasser eintaucht. Guter Chris. Unheimlicher Chris.
Unheimlich, weil die Anwesenheit eines Mannes im Haus – und das intime Verhältnis zu ihm – unliebsame Erinnerungen an Ray wachrief, wenn auch allein über den Kontrast vermittelt. Der Geruch von Aftershave im Bad, eine auf den Schlafzimmerfußboden geworfene Männerhose, männliche Wärme, die in den Ritzen des Bettes hing … mit Ray waren ihr all diese Dinge irgendwann nur noch hassenswert erschienen, so unangenehm wie ein blauer Fleck. Aber mit Chris war es das genaue Gegenteil. Gestern hatte sie sich nicht nur bereit erklärt, seine Sachen mit zu waschen, sie hatte sich zudem dabei ertappt, wie sie verstohlen seinen Geruch aus einem Unterhemd einatmete, bevor sie es in die Maschine gab. Lächerlich, wie ein Schulmädchen, dachte Marguerite. Wie gefährlich verschossen sie in diesen Mann war.
Anzunehmen aber, dass es jedenfalls therapeutische Wirkung hatte – als würde man das Gilt aus einer Schlangenbisswunde ziehen.
Es wurde viel über »Abriegelungsromanzen« gesprochen. War dies eine Abriegelungsromanze? Marguerites Erfahrungen waren begrenzt. Ray war nicht nur ihr erster Ehemann, sondern auch ihre erste ernsthafte Liebschaft gewesen. Marguerite hatte, wie Tess, in der Schule zu den Außenseitern gehört: intelligent, aber linkisch, nicht besonders hübsch und immer zu schüchtern, um den Mund aufzumachen, wenn sie unter Leuten war. Jungen mit diesen Eigenschaften wurden als »Geeks« bezeichnet, aber die schienen wenigstens Trost in der Gemeinschaft mit anderen ihresgleichen zu finden. Marguerite hatte nie echte Freunde, egal welchen Geschlechts, gehabt, jedenfalls nicht vor dem Fachstudium. Dort immerhin hatte sie Kollegen gefunden, Leute, die ihr Talent respektierten, die sie für ihre Ideen schätzten und von denen einige tatsächlich zu Freunden geworden waren.
Vielleicht war das der Grund, warum Ray einen solchen nachhaltigen Eindruck auf sie gemacht hatte, als er Interesse an ihr zu zeigen begann. Ray war zehn Jahre älter als sie und schon mit avancierter Astrophysik beschäftigt, als sie noch darum kämpfte, eine Arbeitsmöglichkeit in Crossbank zu finden. Seine Meinungen tat er stets unverblümt
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