Queenig und spleenig - Wie die Englaender ticken
underground Aufsicht entwertet haben und auf der Rolltreppe in die feuchtwarmen Katakomben Londons hinab gefahren sind. Kaum haben sie nämlich einen Zug bestiegen, wird eine metallische Stimme Sie informieren, dass die Bahn heute leider nicht an der Station hält, an der Sie aussteigen wollten. Oder vielmehr: Die Stimme wird versuchen, Sie über diese Fahrplanänderung zu informieren, es aber nicht schaffen, denn meist ist die Durchsage unmöglich zu verstehen oder sie kommt erst, wenn Ihre Bahn nach halbstündigem Stillstand gerade wieder Fahrt aufgenommen hat. Immerhin haben Sie dann ein paar Sekunden Zeit, eine alternative Fahrtroute austüfteln: „Hmm. Bei der nächsten Haltestelle raus, dann Zug wechseln, dann zwei Haltestellen, dann zu Fuß zum Bus rüber, dann zwei Stationen, dann die restlichen fünf Kilometer zu Fuß … ? Müsste hinhauen!“ Täte es auch, wenn die alternative Fahrt nicht schon an der nächsten Station wieder zum abrupten Halt käme. Was erneutes Taktieren erfordert. „Warte mal: Wenn ich den Zug zur Kings Cross nehme und von da umsteige in … die Northern Line?“ Haha, Überraschung! Fällt heute ganz aus. „Na gut. Ich könnte auch von der Goodge Street Station aus zu Fuß …“ Das Gute daran ist: Sollten Sie tatsächlich am Ziel ankommen, irgendwie, irgendwann, werden Sie sich großartig fühlen. Als hätten Sie im Lotto gewonnen. Oder eine gefährliche Krankheit überlebt.
Tube Challenge , „Herausforderung Tube“, heißt ein Sport, der 1961 zum ersten Mal im Guinness Book of Records Erwähnung fand. Die Aufgabe: Alle 275 Stationen der London Underground in einem Rutsch und in der kürzest möglichen Zeit abzufahren. Der Rekord liegt bei 18 Stunden und 25 Minuten – und wird von zwei Schweden gehalten. Die hauptsächliche challenge besteht natürlich in der totalen Kenntnis des Streckennetzes und des Zeitplans, denn auch wenn man die perfekte Streckenführung theoretisch per Computer ausrechnen kann, lässt sich nie voraussehen, welcher Zug wohl heute wieder umgeleitet wird, Verspätung hat oder ganz zusammenbricht (siehe oben).
Manche Züge sehen wirklich so aus, als würden sie gleich zusammenbrechen – was daher kommt, dass sie schon sehr, sehr alt sind. Manchmal brechen statt der Züge aber auch die Reisenden zusammen. Womöglich, weil sie schon so lange auf ihren Anschlusszug warten, dass auch sie mittlerweile sehr, sehr alt sind. Oder weil es Hochsommer ist und die Temperaturen in der U-Bahn dann, wie Wissenschaftler vor ein paar Jahren feststellten, eigentlich sogar für Tiertransporte unzulässig wären. Ein Team von forensischen Medizinern – das sind die, die in Krimis alles erledigen müssen, was unappetitlich ist – hat vor einiger Zeit eine Sitzreihe der central tube line abgeschraubt, ins Labor verfrachtet und unter die Lupe genommen. Das Ergebnis: vier Sorten von Haar (Mensch, Hund, Ratte, Maus), sieben verschiedene Insekten (überwiegend lebende Flöhe), Sperma und der Wissenschaft bisher unbekannte Pilzarten. Erbrochenes von mindestens sieben, Urin von mindestens vier Personen! Tss. Dafür könnte man ja nun wirklich die gekachelten pedestrian walkways (Fußgänger-Unterführungen) benutzen!
Die Tube ist darüber hinaus eine beliebte Selbstmord-Location, was zur Folge hat, dass sehr viele der nuscheligen Ansagen versuchen, auf nette Weise mitzuteilen, dass gerade jemand überfahren wurde. Je nach sprachlicher Kreativität des Ansagers erfahren Passagiere dann: „Die Weiterfahrt verzögert sich aufgrund einer außerplanmäßigen Störung“ oder „Die Fahrt verzögert sich aufgrund einer spontan behinderten Person.“ An dieser Stelle möchte ich nicht versäumen zu erwähnen, dass die Tube sich ihren Strom aus den Schienen holt. Wer also unachtsamerweise die Gleise betritt, riskiert nicht nur, völlig unbeabsichtigt das Zeitliche zu segnen, sondern stirbt im Falle des Falles auch noch mit einer ziemlich unvorteilhaften Frisur.
Wundern Sie sich nicht, wenn die Ansage während der Fahrt fordert: Alight here for Madame Tussauds . Das heißt nicht, dass Sie in Flammen aufgehen oder ihre Taschenlampe schwenken sollen. Es heißt nur, dass sowohl das britische Fremdenverkehrsamt als auch die Vereinigung der Londoner Taschendiebe Sie herzlich einladen, an der nächsten Haltestelle auszusteigen, im furchtbaren Gedränge eine Stunde lang vor der Touristenfalle namens Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett anzustehen, eine wahnwitzig überteuerte Eintrittskarte
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