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hinunter, um Titos Hand zu drücken. »Mann der Stunde.«
»Ich mag die Warterei nicht«, sagte Tito und stand auf, um die Spannung in Rücken und Armen abzuschütteln. Die nackte Glühbirne über ihnen schien heller als je zuvor. Vianca hatte sie sauber gewischt.
»Aber ich habe dein Systema gesehen, Cousin.« Brotherman hob eine weiße Plastiktüte hoch. »Carlito schickt dir Schuhe.« Er gab Tito die Tüte. An den knöchelhohen schwarzen Stiefeln hingen noch die weiß-blauen Adidas-Etiketten. Tito ging neben der eingetüteten Matratze in die Hocke und zog seine Stiefel aus. Er fädelte die Schnürsenkel in die Adidas-Stiefel, zog sie über seine Baumwollsocken, entfernte die Etiketten und zog die Schnürsenkel sorgfältig nach, ehe er sie zur Schleife band. Er stand auf und verlagerte sein Gewicht hin und her, um die Passform zu prüfen. »GSG9-Modell«, sagte Brotherman. »Spezialeinheit der Polizei in Deutschland.«
Tito stellte seine Füße schulterbreit auseinander, steckte den Nano in den Halsausschnitt seines T-Shirts, atmete tief ein und machte einen Salto rückwärts, bei dem seine neuen Schuhe die Glühbirne an der Decke nur knapp verfehlten, bevor er fast einen Meter weiter hinten wieder landete.
Er grinste Vianca an, aber sie lächelte nicht zurück. »Ich gehe jetzt was zum Essen holen«, sagte sie. »Was wollt ihr?«
»Irgendwas«, erwiderte Tito.
»Ich werde das hier einladen«, sagte Brotherman und stieß mit dem Fuß an den Haufen schwarzer Pakete. Vianca gab ihm ein frisches Paar Handschuhe aus ihrer Jackentasche.
»Ich helfe mit«, sagte Tito.
»Nein«, meinte Brotherman. Er zog die Handschuhe an und wackelte mit seinen weißen Fingern vor Tito. »Du verdrehst dir den Knöchel, verstauchst dir irgendwas und Carlito hat uns am Arsch.«
»Er hat recht«, sagte Vianca bestimmt und ersetzte das Papierhaarnetz durch ihr Baseballcap. »Keine Tricks mehr. Gib mir deine Brieftasche.«
Tito gab sie ihr.
Sie nahm die zwei Dokumente heraus, die ihm die Familie zuletzt besorgt hatte. Familienname Herrera. Adios. Sie ließ ihm das Geld und die MetroCard.
Tito sah von seiner Cousine zu seinem Cousin. Dann setzte er sich wieder auf die Matratze.
29. ISOLIERUNG
Dieses Rize hatte etwas, dachte Milgrim, was ihn an einen der mysteriöseren Effekte beim Genuss besonders scharfer Szechuan-Gerichte erinnerte. Er lag in voller Montur auf seiner Tagesdecke im New Yorker.
Nicht einfach nur scharf, sondern vielmehr: kundig gewürzt. Sie brachten einem dann einen Teller mit Zitronenspalten, die man aussaugen konnte, um das Brennen etwas zu neutralisieren. Es war lange her, dass Milgrim ein solches Essen gehabt hatte. Es war lange her, dass er eine Mahlzeit gegessen hatte, die ihm als ein Vergnügen in Erinnerung war. Die chinesische Kost, die ihm derzeit am vertrautesten war, bewegte sich in den Gleisen der Instant-Kantonküche, die sie ihm in die Wäscherei an der Lafayette brachten. Aber in diesem Moment spürte er wieder das eigenartig angenehme Gefühl, wie wenn man kaltes Wasser auf extreme Pfefferschärfe trinkt – wenn das Wasser den Mund zwar völlig ausfüllt, ihn aber irgendwie nicht berührt, wie eine moleküldünne, silberne Membran aus chinesischer Antimaterie, ein Zauberbann, eine Art magischer Isolierung.
So war es mit dem Rize: Das kalte Wasser entsprach der Aufgabe, Milgrim zu sein, oder vielmehr den problematischen Aspekten davon, Milgrim zu sein oder einfach nur zu sein. Wo eine weniger ausgefeilte Rezeptur ihm helfen würde, das kalte Wasser einfach verschwinden zu lassen, bestärkte das Rize ihn dazu, es aufzunehmen in seinen Mund, um diese Silbermembran zu genießen.
Obwohl seine Augen geschlossen waren, wusste er, dass Brown in diesem Moment zur Verbindungstür gekommen war, die offenstand.
»Eine Nation«, so hörte er sich selbst sagen, »gründet auf Gesetzen. Eine Nation gründet nicht auf ihrer Situation zu einer bestimmten Zeit. Wenn die Moralvorstellungen eines Individuums situationsabhängig sind, hat dieses Individuum keine Moral. Wenn die Gesetze einer Nation situationsabhängig sind, hat diese Nation keine Gesetze und ist bald keine Nation mehr.« Er öffnete die Augen, um sich zu vergewissern, dass Brown dastand, seine halb auseinander genommene Pistole in der Hand. Das Säubern, Schmieren und die Überprüfung der Mechanismen im Innern der Pistole war ein Ritual, das alle paar Abende vollzogen wurde, obwohl Brown in der Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, nie
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