Querschläger
verpasst.
Manchmal stellt sie sich vor, dass etwas geschieht, das die bestehenden Regeln außer Kraft setzt. Irgendeinen zutiefst anarchistischen Zustand, in dem sich das Unterste zuoberst kehrt und die ganze Welt auf den Kopf gestellt ist. Der Gedanke hat etwas Tröstendes, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund liegt auch eine leise Bedrohung darin. Miranda Kerr beobachtet ihre Hände, die die Zeichnung mit dem Michelinmännchen langsam und gewissenhaft zu einem kleinen Boot falten, und denkt an Filme, die sie gesehen hat, alte Filme, die sich keiner ihrer Mitschüler je anschauen würde. Aber sie sieht diese Filme. Sieht sie, weil sie Zeit hat. Und Zeit hat sie, weil sie schnell ist. Schnell lernt. Schnell fertig wird mit allem, was sonst noch zu tun ist. Und obendrein niemanden hat, mit dem sie sich treffen könnte. Zumindest nicht, seit Hannah am anderen Ende der Welt wohnt. Also guckt sie sich alte Filme an. Und an genau diese Filme muss sie jetzt denken. Filme, in denen unscheinbare Menschen, die für alle anderen immer nur der Fußabtreter gewesen sind, urplötzlich mit Machtbefugnissen ausgestattet werden, die es ihnen ermöglichen, Rache zu nehmen. Ihre Peiniger und andere unliebsame Mitmenschen ins Gefängnis oder an die Front oder sogar ins KZ zu schicken, wie es ihnen gerade einfällt. Der bleiche Herr Dorf aus dem Mehrteiler Holocaust ist so ein Beispiel. Oder dieser irre Kassierer aus dem Film Erdbeben, der von jetzt auf gleich eine Einheit von Reservisten kommandiert und jeden Menschen in seiner Umgebung unter abstrusesten Anschuldigungen verhaften oder erschießen lassen kann.
Miranda Kerr hebt den Kopf und legt das Boot, zu dem sie das Michelinmännchen gefaltet hat, auf ihr Matheheft. Wenn die Geschundenen eines Tages an die Macht kommen, denkt sie, indem sie wieder zu Angela Lukosch und Mirja Libolski hinübersieht, dann gnade euch Gott!
Raum 046, Lehrerzimmer, Erdgeschoss, 11:52 Uhr
»Du liebe Güte, wie ist denn das passiert?« Karen Ringstorff blickt auf die Finger des Mädchens hinunter, deren Nägel abgekaut und blutverkrustet sind. Sie hat die Kleine nie im Unterricht gehabt und kann sich auch nicht erinnern, ihr schon einmal begegnet zu sein, aber sie kennt den Typ. Eine Dauerversehrte. Eine, die sich von jedem Jungen, mit dem sie geht, herum schubsen lässt. Ein Mädchen ohne Stolz und Talent. Eine von denen, die eifersüchtige Ohrfeigen für eine Form der Wertschätzung halten und blaue Flecken für Liebesbeweise. Aber die Wunde, die Karen Ringstorff jetzt vor sich sieht, wirkt zufällig. Oder?
»Ich hab mich in der Tür geklemmt«, murmelt das Mädchen, ohne sie anzusehen. Offenbar ist es ihr peinlich, dass man sie aus ihrem Unterricht fortgeschickt hat, um ihre Hand versorgen zu lassen. »Ist halb so wild.«
Das sehe ich anders, denkt Karen Ringstorff und betrachtet die tiefen Abschürfungen über den Fingerknöcheln, aus denen langsam und träge dickes, dunkelrotes Blut quillt.
»Ich sollte mich bei Frau Soltau melden«, nuschelt das Mädchen, indem es ungeschickt ein reichlich zerknülltes Papiertaschentuch auf das Blut presst, »aber die war nicht da, und da dachte ich …«
Entweder ist sie an starke Schmerzen gewöhnt, oder sie steht unter Schock, urteilt Karen Ringstorff und nickt. »Schon gut. Aber das da«, sie zeigt auf die Hand unter dem Taschentuch, das sich bereits blutrot verfärbt, »sollten Sie besser einem Arzt zeigen.«
Das Mädchen schüttelt den Kopf. Die erste heftigere Reaktion, seit sie dort in der Tür zum Lehrerzimmer steht, an die sie geklopft hat, weil sie es nicht wagt, unverrichteter Dinge wieder in ihren Unterricht zurückzukehren. »Ich brauche keinen Arzt. Echt nicht.«
Ihre Augen nehmen einen flehenden Ausdruck an, und Karen Ringstorff weiß nicht, ob sie ungeduldig werden oder nachgeben soll.
»Wirklich, das ist schon okay«, versichert ihr das Mädchen im Türrahmen unterdessen mit einem Eifer, der Karen Ringstorff wütend macht. Genauso wütend wie das Mitleid, das sie auf einmal empfindet. »Wenn Sie nur vielleicht ein Pflaster hätten?« Die Kleine schluckt und wiederholt dann ein wenig hilflos: »Frau Soltau war ja leider nicht da.«
»Kann man vielleicht helfen?«, fragt Heribert Scherer hinter ihnen.
Karen Ringstorff braucht sich gar nicht erst zu dem Kollegen umzudrehen, um zu wissen, dass ihm der Geifer bereits auf den Hemdkragen tropft. Dass er diese kleine Versehrte liebend gern zum Erste-Hilfe-Kasten in den engen Raum hinter
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