Quest
Zugang in der Wand; zum Glück war es lang genug. Öffnen Sie die Rückwand nicht, während die Kühlkammer in Betrieb ist - Lebensgefahr stand auf einem kleinen farbigen Warnschild, aber Muntak zog einen Universalschraubendreher aus der Tasche, um genau das zu tun.
Wenige Augenblicke später starrten sie erneut in ein Gewirr aus Kabeln und Schläuchen. Einige Instrumente mit kleinen Anzeigeskalen waren zu erkennen: sie standen alle auf Null. Ein kleines rotes Licht blinkte, vermutlich schon seit hundert Jahren.
»Wir brauchen«, sagte Muntak endlich, »jemand, der sich mit solchen Geräten auskennt.«
Zwei Phuwara-Kerzen auf dem Tisch im Schlafzimmer brannten, verbreiteten ein sanftes Licht und einen sanften Duft.
An diesem Morgen waren die Vitalwerte des Kommandanten besser als sonst. Vileena hatte den Tiegel mit Paste Grün und die zugehörigen Messer schon in ihrer Tasche, aber nachdem sie seinen Pulsdruck gemessen hatte, beschlo ss sie, damit noch zu warten.
»Und?« wollte Quest wissen. »Wie lange gibst du mir noch?«
»Ich habe dir nichts zu geben«, sagte sie. »Nichts au ss er einigen Heilmitteln und Ratschlägen.«
»Noch ein Halbjahr? Was meinst du?«
Sie hob nur die Augenbrauen, schwieg aber.
Quest seufzte. »Nein, kein Halbjahr mehr. Ein Fünfteljahr, höchstens.« Er beugte sich vor, zog das Kurzhemd zurecht, begann das Langhemd überzustreifen. »Soll ich dir etwas sagen?
Ich beginne, meinen Körper zu hassen. Schau nicht so. Er lä ss t mich im Stich. Er hat die Unverschämtheit, einfach zu zerfallen.
Jeden Morgen wundere ich mich, da ss ich noch lebe, und ich sehe als erstes nach, was noch funktioniert. Heute morgen habe ich mein rechtes Bein nicht mehr gespürt, aber es war noch da.
Es war nicht abgedrückt gewesen oder so etwas, ich habe es einfach nicht mehr gespürt. Unmöglich, aufzustehen oder zu gehen. Gut, es ist wieder aufge taucht, aber es kommt mir immer noch vor wie ein Fremdkörper. Als würde es nicht zu mir gehören. Denkst du, das bleibt jetzt so?«
»Das wei ss ich nicht«, sagte Vileena. Beeinträchtigung der sensorischen Nerven. Noch etwas, das sie prüfen mu ss te.
Der Kommandant hob seine rechte Hand und betrachtete sie.
»Ist das nicht merkwürdig?« meinte er versonnen. »Jetzt, in diesem Augenblick, lebe ich. Ich sehe. Ich sehe diese Hand, kann sie bewegen, fühle ihre Bewegungen. Ich atme. Ich rieche diesen Raum, den Duft der Phuwaras, den Geruch deiner Essenzen… Ich bin . Jetzt, in diesem Moment, bin ich. Und ich kann darüber nachdenken, wie es sein wird in einem Halbjahr, wenn ich nicht mehr bin. Ist das nicht völlig abstrus?«
Vileena musterte ihn, überlegte, ob sie die Äu ss erungen des Kommandanten als beginnende Depression auffassen mu ss te oder nicht. »Das ist unser aller Schicksal«, sagte sie, weil sie das Gefühl hatte, er erwarte eine Antwort. »Das Wissen um unsere Sterblichkeit ist es, was uns über die Tiere erhebt.«
»Erhebt es uns, so? Im Augenblick kommt es mir eher wie eine Last vor, dieses angeblich so erhebende Wissen. Und was wissen wir denn eigentlich? Nichts. Wir beobachten nur etwas, das wir nicht verstehen. Und je mehr wir versuchen, es zu verstehen, desto weniger begreifen wir.« Er stand auf, nahm seine Hose vom Stuhl, stieg hinein. »Mein Oheim starb, als ich ein Kind war. Ich entsinne mich noch an die Festlichkeiten damals, das Begräbnis, die Einsetzung meines Vaters ins Patriarchat, all die Menschen und die Musik und die geschmückten Säle… Und wie ich mitten darin stand und darüber nachdachte, wie das wohl ist, tot zu sein. Ich sah den toten Körper aufgebahrt liegen, ruhig, glatt, das Gesicht wie grauer Stein, so reglos… Irgendwie war es mein Oheim und war es auch wieder nicht. Es war, als wäre er ausgetauscht worden gegen eine Statue, eine Puppe aus Wachs. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir immer vorgestellt, Tod sei wie Dunkelheit, aber da wurde mir klar, Dunkelheit, das hie ss e, jemand ist da, der Dunkelheit wahrnimmt, jemand oder etwas, das imstande ist, zu denken: es ist dunkel. Ich starrte auf die Gestalt auf der Bahre, und mir wurde klar, da ss Tod noch weniger ist als das. Da ss da niemand mehr ist, der irgend etwas wahrnimmt, weder Dunkelheit noch sonst etwas. Da ss Tod genau das sein mu ss : das Erlöschen desjenigen, der wahrnimmt.«
Quest trat an den Tisch, barfu ss , mit unverschnürtem Gürtel und offenem Wams, hob eine der Kerzen vor das Gesicht und betrachtete sie, als erwarte er, nie
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