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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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ihn nun gleichsam zum ersten Mal – und sahen ein wenig von dem, was Enoch sah. Enoch hörte Fetzen ihrer Spöttelei – »Was hast du denn da an den Händen? Was hast du gesagt? Farbe? Für was? Schöne Bilder? Was hast du gesagt? Für Möbel? Ich hab keine Möbel gesehen. Ach so, Puppenmöbel!?«
    Für Enoch als düsteren Empiriker war nicht in allen öden Einzelheiten wichtig, wie dem Kleinen das Herz gebrochen wurde. Er ging zu dem Apfelbaum, um sich die Handarbeit des Knaben anzusehen.
    Der Knabe hatte den Stein in ein Bindfadennetz eingesponnen: Zwei Reihen von Spiralen, die eine im Uhrzeigersinn, die andere gegen den Uhrzeigersinn aufsteigend, überschnitten sich in einem Rautenmuster, genau wie das Bleinetz, das Clarkes Fenster zusammenhielt. Enoch ging davon aus, dass das kein Zufall war. Die Arbeit war zunächst unregelmäßig, doch mit Abschluss der ersten Reihe von Knoten hatte der Knabe zu berücksichtigen gelernt, wie viel Schnur er brauchte, um die Knoten zu schlingen, und bei der letzten angekommen, war das Ganze so regelmäßig wie das Vorrücken der Äquinoktien.
    Dann ging Enoch rasch zur Schule und kam gerade rechtzeitig, um die unvermeidliche Prügelei mitzuerleben. Der blonde Knabe hatte rote Augen, und an seinem Kinn klebte erbrochener Haferbrei – man konnte getrost annehmen, dass er einen Schlag in den Magen bekommen hatte. Ein anderer Schüler – so einen gab es in jeder Schule – schien sich zum Zeremonienmeister ernannt zu haben und stachelte die beiden an – wobei er dem Kleineren als dem Gekränkten und vermutlichen Verlierer des bevorstehenden Kampfes die meiste Aufmerksamkeit widmete. Zur Überraschung und Freude der Gemeinschaft junger Gelehrter trat der kleinere Knabe vor und hob die Fäuste.
    So weit hieß Enoch es gut. Eine gewisse Streitlust bei dem Burschen war durchaus nützlich. Begabung war nicht selten; die Fähigkeit, ihren Besitz zu überleben, dagegen schon.
    Dann wurden sie handgemein. Es wurden nicht viele Schläge gewechselt. Der Kleine setzte auf Kniehöhe des Großen einen geschickten Griff an, der diesen rücklings zu Fall brachte. Sofort fuhr das Knie des Kleinen dem anderen in den Unterleib, dann in die Magengrube, dann gegen den Hals. Und dann plötzlich rappelte der Große sich auf – aber nur, weil der Blonde sich anschickte, ihm beide Ohren abzureißen. Wie ein Bauer, der einen Ochsen am Nasenring führt, führte der Kleine den Großen zur nächstgelegenen Steinmauer hinüber, bei der es sich zufällig um die von Granthams riesiger alter Kirche handelte, und begann, das Gesicht seines Gefangenen daran zu reiben, als wolle er es ihm vom Schädel radieren.
    Bis dahin hatten die anderen Knaben gejubelt. Auch Enoch hatte das Anfangsstadium des Sieges in gewisser Weise als bewegend empfunden. Doch während diese Folter weiterging, erschlafften die Gesichter der Knaben. Viele drehten sich um und rannten weg. Der Blonde hatte sich in einen ekstaseähnlichen Zustand hineingesteigert – zerrte und warf sich hin und her wie jemand, der sich dem erotischen Höhepunkt nähert – sein Körper ein unzureichendes Gefäß für seine Leidenschaften, ein totes Gewicht, welches das Erblühen des Geistes behinderte. Schließlich kam ein Erwachsener – Clarkes Bruder? – zu einer Tür herausgestürzt und stürmte im tapsigen Gang eines Menschen, der es nicht gewohnt ist, sich rasch bewegen zu müssen, über den Hof zwischen Schule und Kirche, in der Hand einen Stock, mit dem er aber nicht den Boden berührte. Er war so zornig, dass er kein Wort von sich gab und auch nicht versuchte, die beiden Jungen zu trennen, sondern im Näherkommen einfach den Stock durch die Luft pfeifen ließ wie ein Blinder, der sich gegen einen Bären verteidigt. Schon bald hatte er sich in Reichweite des blonden Jungen gebracht, setzte fest die Füße auf und machte sich vornübergebeugt an die Arbeit, sodass der Stock denkwürdige, jeweils von einem scharfen Klatschen abgeschnittene, sausende Geräusche machte. Ein paar Speichellecker hielten es nun für sicher, sich zu nähern. Zwei von ihnen trennten den Blonden von seinem Opfer, das sich am Fuße der Kirchenmauer in Fötushaltung zusammenkrümmte und sich mit den wie Buchdeckel geöffneten Händen das zerstörte Gesicht bedeckte. Der Schulmeister korrigierte mit den Bewegungen seines Ziels seinen Azimut, wie ein Teleskop, das einen Kometen verfolgt, aber noch schien der blonde Knabe keinen der Schläge tatsächlich gespürt zu haben – er

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