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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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breiten Grinsen verzog. Quietschend vor Freude sprang das Mädchen auf und schlug mit wehendem Petticoat auf der Straße ein Rad und plötzlich kam wieder Leben in die ganze Prozession: Der Priester folgte dem Mädchen, das einen Handstandüberschlag nach dem anderen vollführte, und den Tänzern, den eingewickelten Leichen oben auf dem Karren, die imTakt zur Musik die Hüften schwangen und präverbale Huu! Huu! -Laute ausstießen, um die Lücken in der Melodie zu füllen. Die Totengräber und Fischweiber plus eine Anzahl Blumenmädchen und Rattenfänger, die sich unterwegs angeschlossen hatten, tanzten jetzt zu dem Lied des Priesters in einem Medley aus verschiedenen Tanzschritten, nämlich stolzierenden Freudenhausschritten, irischem Stampfen und Tarantellas vom Mittelmeer.
Warst du böse und
ein recht übler Hund,
als Mädchen triebst’s bunt
mit einem Mann oder zwein ohne – Trauschein,
hast die Nächte durchgemacht,
laut gezecht und gelacht,
und dann ein Kind ohne Acht
überfahr’n mit deiner feschen – Kalesche,
    Und so ging es ziemlich lange weiter, denn sie mussten durch die ganze Universität und dann die römischen Thermen von Cluny paradieren. Als sie über den Petit Pont kamen, drängten um die tausend arme Schlucker aus den Toren des Hôtel-Dieu heraus – dieses gewaltigen Armenhauses unmittelbar neben Notre Dame, woher der Priester, die Totengräber und die Toten ursprünglich gekommen waren – und ließen, von der Orgel von Notre Dame begleitet, einen mächtigen Chorus erschallen, das Zeichen zum Fallen des Vorhangs über diesem ganzen Umzug.
Jeder tut es – ein jeder sündigt, und im Lauf
dieser Party hat jeder mal den Hosenlatz auf,
jeder trinkt gerne mal, von Zeit zu Zeit,
im Arm’nen Kerl oder’ne Maid, ein Glas Seligkeit.
 
So beicht’ alle Sünden und gib zu, du warst gemein,
das ist keine Mode, noch soll’s’ne Masche sein,
der Papst sagt, wir sollen es tun, wenn wir einfach
etwas zu viel Spaß hatten und man uns fein
den Hintern haun müsste (außer wir täten’s genießen),
hast du Sünde im Herz, ist’s Zeit, sie zu zerschießen,
vom Ärmsten der Armen bis rauf zu King Louie,
Sünden klein oder riesig, falls du falsch dich entschieden,
ist es gut, dich zu ändern, zu sagen: Das war schade.
Im stillen Kämmerlein, und nur Gott sieht deine Fassade,
In Kirche oder Dom, deine Zeit, dein Ort, deine Parade.
Und was hast du davon? UNVERDIENTE GNADE!
    Dieses Lied nahm allmählich die Form eines Reigens an, dazu gedacht (so vermutete Jack), das Zyklische an dieser Prozedur hervorzuheben: Einige der armen Teufel, Fischweiber et cetera gaben sich gleich an Ort und Stelle, mitten auf der Straße, der Fleischeslust hin, während andere in geordneten Infanteriekarrees zu dem Priester eilten, um zu beichten, sich dann abwandten, um eine Kniebeuge in Richtung Kathedrale zu machen, und sich anschließend in wildem Durcheinander wieder in die Hurerei stürzten. Jedenfalls hatte nun jeder Einzelne, ob Skelett, Leiche, armer Schlucker,Totengräber, Fischweib, Straßenverkäufer oder Priester, eine bestimmte Rolle zu spielen und einen bestimmten Part zu singen, nur Jack nicht; und so lösten sich Jacks Vorläufer und Vorreiter einer nach dem anderen von ihm oder verflüchtigten sich in der dünnen Luft, sodass er allein (wenn auch von den Tausenden beobachtet und angefeuert) auf den großen Platz vor der Kathedrale von Notre Dame ritt, der einen Anblick bot, wie man ihn sich prächtiger und farbenfroher kaum vorstellen konnte. König Louies Regimenter ließen sich nämlich allesamt von einer überaus glanzvollen, mitratragenden papistischen Autoritätsperson, nur ein oder zwei Stufen unter dem Papst, die in der gleißenden Sonne unter einem Baldachin aus glänzendem, mit Lilien besticktem Stoff stand, ihre Regimentsfahnen segnen. Die Regimenter selbst waren nicht anwesend – dafür hätte der Platz nicht ausgereicht -, aber ihre adligen Befehlshaber und ihre Herolde und Fahnenträger, die riesige Banner aus Seide, Satin und goldenem Stoff trugen: Banner, die aus einer Meile Entfernung durch Wolken aus Pulverdampf hindurch zu sehen sein sollten und die dazu bestimmt waren, imposant zu wirken, wenn sie auf die Mauern holländischer, deutscher oder englischer Städte gepflanzt wurden, und außerdem das einfache Volk mit dem Ruhm, der Macht und vor allem dem guten Geschmack von Leroy zu beeindrucken. Jedes Banner besaß seine ganz eigene magische Macht über die Truppen seines

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