Quicksilver
Versailles, ich (oder jedenfalls mein fiktiver Onkel) könne ihnen helfen, von ihren Spielschulden herunterzukommen, den Umbau ihrer Schlösser zu bezahlen oder sich neue prachtvolle Kutschen zu kaufen. Über ihre Habgier kann ich nur den Kopf schütteln. Wenn man aber den Geschichten glauben darf, haben ihre Väter und Großväter alles Geld, das sie besaßen, darauf verwandt, Privatarmeen aufzustellen und ihre Städte gegen den Vater und Großvater des gegenwärtigen Königs zu befestigen. Da soll das Geld dann doch lieber zu Schneidern, Bildhauern, Malern und chefs de cuisine als zu Söldnern und Büchsenmachern gehen.
Natürlich stimmt es, dass ihr Gold, wäre es in Amsterdam gut angelegt, eine höhere Rendite erzielen würde als in einer Geldkassette unter ihren Betten. Die einzige Schwierigkeit liegt darin, dass ich solche Investitionen nicht von einer Dachkammer in Versailles aus tätigen und zur selben Zeit auch noch zwei mutterlosen Kindern Lesen und Schreiben beibringen kann. Mein spanischer Onkel ist eine Erfindung von Euch, wahrscheinlich geboren aus der Befürchtung heraus, diese französischen Adligen würden niemals einer Frau ihr Vermögen anvertrauen. Das bedeutet, dass ich die Arbeit persönlich erledigen muss, und das ist nur möglich, wenn ich die Freiheit habe, mehrmals im Jahr nach Amsterdam zu reisen...
An Gottfried Wilhelm Leibniz
12. September 1685
Heute Morgen wurde ich in die vergleichsweise ausgedehnten und prächtigen Gemächer einer Hofdame der Dauphine bestellt, im Südflügel des Palastes gleich neben den Gemächern der Dauphine selbst.
Die betreffende Dame ist die Herzogin von Oyonnax. Sie hat eine jüngere Schwester, die Marquise d’Ozoir, die zufällig gerade mit ihrer neunjährigen Tochter einen Besuch in Versailles macht.
Das Mädchen macht einen hellen Eindruck, ist aber halb tot vor Asthma. Als die Marquise sie zur Welt brachte, riss irgendetwas bei ihr, sodass sie keine weiteren Kinder bekommen kann.
Die d’Ozoirs gehören zu den wenigen Ausnahmen von der allgemeinen Regel, dass alle einflussreicheren französischen Adligen in Versailles zu wohnen haben – aber nur, weil der Marquis Verpflichtungen in Dünkirchen hat. Für den Fall, dass Ihr Eure Familienstammbäume des europäischen Adels lückenhaft geführt habt, Doktor, erinnere ich Euch daran, dass der Marquis d’Ozoirs der uneheliche Sohn des Duc d’Arcachon ist.
Der, als er ein Bürschchen von fünfzehn Jahren war, den künftigen Marquis mit der blutjungen kessen Gesellschafterin seiner Großmama zeugte – das arme Mädchen war dazu gezwungen worden, dem jungen Herzog seine erste Liebeslektion zu erteilen.
Eine Frau nahm der Duc d’Arcachon sich erst, als er fünfundzwanzig war, und sie bekam erst weitere drei Jahre später ein lebensfähiges Kind (Étienne d’Arcachon). Deshalb war der Bastard bei der Geburt seines ehelichen Halbbruders bereits ein junger Mann. Er wurde nach Surat verschifft, als Gehilfe für Boullaye und Beber, die dort um 1666 herum versuchten, die französische Ostindienkompanie zu gründen.
Doch wie Ihr vielleicht wisst, erging es der französischen O.I.K. nicht annähernd so gut wie der englischen und der holländischen. Boullaye und Beber fingen an, in Surat eine Karawane zusammenzustellen, mussten jedoch aufbrechen, bevor alle Vorbereitungen getroffen waren, da die Stadt dabei war, den Maharatten-Rebellen in die Hände zu fallen. In der Hoffnung, Handelsverträge zu schließen, reisten sie ins Hinterland von Hindustan. Als sie sich den Toren einer großen Stadt näherten, kam eine Abordnung von Banyans – die wohlhabendesten und einflussreichsten commerçants dieser Gegend – heraus, um sie zu begrüßen, in der Hand, wie es bei ihnen Brauch war, Schalen mit kleinen Geschenken. Boullaye und Beber hielten sie irrtümlich für Bettler und schlugen sie mit ihren Reitpeitschen, wie jeder anständige Franzose der Oberschicht es tun würde, wenn er auf der Straße bettelnde Landstreicher vor sich hätte.
Die Stadttore wurden ihnen vor der Nase zugeschlagen. Der französischen Delegation blieb nichts anderes übrig, als wie Ausgestoßene durchs Hinterland zu wandern. Schon bald wurden sie auch von den Führern und Trägern verlassen, die sie in Surat angeheuert hatten, und wurden allmählich zur Beute für Wegelagerer und Maharatten-Rebellen. Schließlich schlugen sie sich nach Shahjahanabad durch, wo sie hofften, vom Großmogul Aurangzeb Beistand erbitten zu können, doch man teilte
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