Quicksilver
die gleiche Zeit anzeigten: ein paar Minuten nach neun Uhr morgens.
Sie blickte zum Fenster hinaus über den Plein und sah hohe Wolken. Aus den unzähligen Schornsteinen des Binnenhof neigten sich Rauchfahnen unter stetigem Seewind ostwärts. Genau der richtige Tag zum Sandsegeln.
Sie ging zur Tür von Huygens’ Schlafkammer und hob eine Faust, klopfte dann aber doch nicht. Falls sie sich irrte, wäre es töricht, ihn zu wecken. Falls sie Recht hatte, wäre es töricht, eine Viertelstunde damit zu vergeuden, ihn aufzuwecken und zu versuchen, ihn zu überzeugen.
Huygens hielt nur ein paar Pferde hier. Die Reitplätze des Malieveld und des Koekamp lagen nur eine Musketenschussweite vom Haus entfernt, und wenn er oder einer seiner Gäste Lust zu reiten verspürte, mussten sie lediglich zu einem der vielen Mietställe spazieren, die diese beiden Orte umgaben.
Eliza lief zur Hintertür des Hauses hinaus, rannte dabei fast eine Holländerin über den Haufen, die den Boden fegte, und sauste in ihren Kaninchenfellpantoffeln im Laufschritt um die Ecke.
Dann zögerte sie, weil ihr einfiel, dass sie kein Geld dabeihatte.
»Eliza!«, schrie jemand.
Sie drehte sich um und sah Nicolas Fatio de Duilliers, der die Straße entlang hinter ihr hergelaufen kam.
»Habt Ihr Geld dabei?«, rief sie.
»Ja!«
Eliza rannte erneut los und blieb erst stehen, als sie den nächsten Mietstall erreicht hatte, der hundert lange Schritte entfernt lag – weit genug, um ihr Herz hämmern zu machen und ihr die Röte ins Gesicht zu treiben. Als Fatio sie einholte, hatte sie die Verhandlungen mit dem Besitzer bereits abgeschlossen; der Schweizer Mathematiker kam gerade rechtzeitig zum Tor herein, um zu sehen, wie Eliza mit dem Finger auf ihn zeigte und rief: »Und er bezahlt!«
Die Pferde zu satteln würde mehrere Minuten dauern. Eliza fühlte sich, als müsste sie gleich erbrechen. Auch Fatio war erregt, aber in ihm bekriegten sich Kinderstube und Vernunft, und die Kinderstube obsiegte; er versuchte, Konversation zu machen.
»Ich vermute, Mademoiselle, dass auch Ihr heute Morgen eine Mitteilung von Enoch dem Roten bekommen habt?«
»Nur, wenn er zu mir gekommen ist und mir etwas ins Ohr geflüstert hat, während ich schlief!«
Fatio wusste nicht, was er davon halten sollte. »Ich habe ihn vor ein paar Minuten in meinem Stammkaffeehaus getroffen... Er hat seine rätselhafte Bemerkung von gestern Abend näher ausgeführt...«
»Mir hat genügt, was wir gestern Abend gesehen haben«, antwortete Eliza. Ein verschlafener Stalljunge ließ einen Sattel fallen und versuchte sich, anstatt ihn aufzuheben, an einer witzigen Bemerkung. Der Besitzer rechnete mit einem Federkiel, der die Tinte nicht halten wollte, Zahlen zusammen. Tränen der Frustration traten Eliza in die Augen. »Verdammt!«
»Ohne Sattel zu reiten ist wie Reiten, nur intensiver«, hatte Jack Shaftoe einmal zu ihr gesagt. Sie zog es vor, so wenig und so selten an Jack zu denken wie möglich, doch jetzt kam ihr diese Erinnerung. Bis zu dem Tag, an dem sie sich in dem Stollen unter Wien kennen gelernt hatten, hatte Eliza nie auf einem Pferd gesessen. Es hatte Jack sichtlich Freude gemacht, ihr die Anfangsgründe des Reitens beizubringen, und das umso mehr, wenn sie unsicher wirkte oder herunterfiel oder Türk mit ihr durchging. Aber nachdem sie es beherrschte, war Jack mürrisch und herablassend geworden und hatte keine Gelegenheit ausgelassen, sie daran zu erinnern, dass das Reiten mit Sattel nichts Besonderes sei und man erst richtig reiten könne, wenn man gelernt habe, ohne Sattel zu reiten. Damit kannte sich Jack natürlich aus, denn so stahlen Vagabunden Pferde.
Die Wahl des richtigen Reittiers sei von äußerster Wichtigkeit (hatte er erklärt). Habe man eine Koppel oder einen Stall voller Pferde zur Auswahl, entscheide man sich stets für ein Tier mit flachem Rücken, das allerdings nicht zu breitrahmig sein dürfe, da man sonst mit den Knien keinen richtigen Halt finde. Der Widerrist, d.h. der knöcherne Knubbel am Halsansatz, sollte weder zu groß (weil man sich sonst im Galopp nicht flach legen könne) noch zu klein (weil man sich sonst nicht daran festhalten könne), sondern irgendetwas dazwischen sein. Und das Pferd sollte ein willfähriges Naturell besitzen, denn es könne nicht ausbleiben, dass der Reiter irgendwann aufgrund einer Unebenheit oder eines Schwenks ins Schlingern komme, und dann hänge es einzig und allein von dem Pferd ab, ob der Vagabund
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