Quicksilver
bescheidener Binnenhafen mit einigen sehr alten Kirchen und römischen Ruinen. Dahinter erhebt sich der dunkle Argonner Wald, und irgendwo in diesen Wäldern verläuft die Grenze, die Frankreich von Lothringen trennt. Ein paar Wegstunden weiter östlich liegt das Flusstal der Meuse, das sich nach Norden in die spanischen Niederlande zieht und dann um die wechselnden Grenzen zwischen spanischen, holländischen und deutschen Staaten windet.
Weitere zehn Wegstunden östlich der Meuse befindet sich die Stadt Nancy, die an der Mosel liegt. Dieser Fluss fließt ebenfalls nach Norden, führt dann aber, nachdem er sich um das Herzogtum Luxemburg herumgezogen hat, in weitem Bogen ostwärts und mündet schließlich zwischen Mainz und Köln in den Rhein. Jedenfalls ist es das, was ich in meiner Erinnerung auf den Landkarten in St-Cloud sehe. Ich hielt es nicht für klug, eine davon mitzunehmen!
Im Osten jenseits von Nancy, in Richtung Rhein, zeigten die Karten dann über zwanzig oder dreißig Wegstunden hinweg unklares, verworrenes Gebiet: ein Archipel aus kleinen isolierten Grafschaften und Bistümern, Landkrümel, die bis zum Dreißigjährigen Krieg zum Heiligen Römischen Reich gehört hatten. Schließlich kommt man nach Straßburg am Rhein. Ludwig XIV. hat es vor ein paar Jahren eingenommen. In gewisser Weise erschuf dieses Ereignis mich, denn die Pest und das Chaos von Straßburg lockten Jack dorthin, und später zog die Aussicht auf eine gute Gerste-Ernte und deren unausweichliche Folge – Krieg – ihn nach Wien, wo er mich kennen lernte. Ich frage mich, ob ich den Kreis schließen werde, indem ich jetzt bis nach Straßburg reise. Falls ja, werde ich gleichzeitig einen anderen Kreis schließen, denn von eben dieser Stadt aus ist Liselotte vor siebzehn Jahren nach Frankreich hinübergefahren, um Monsieur zu heiraten und nie wieder in ihre Heimat zurückzukehren.
TAGEBUCHEINTRAG 30. AUGUST 1688
In St-Dizier zog ich mir wieder die Kleider einer feinen Dame an und wohnte in einem Kloster. Es ist eines jener Klöster, in die Damen von Stand für den Rest ihres Lebens gehen, wenn sie es nicht geschafft – oder abgelehnt – haben zu heiraten. In seiner Atmosphäre kommt es einem Bordell näher als einem Kloster. Viele seiner Bewohnerinnen sind noch nicht einmal dreißig Jahre alt und entsprechend lüstern; wenn sie nicht Männer hereinschmuggeln können, schmuggeln sie sich hinaus, und wenn sie sich nicht hinausschmuggeln können, versuchen sie sich aneinander. Liselotte kannte einige dieser Mädchen, als sie in Versailles waren, und hält weiterhin brieflichen Kontakt zu ihnen. Sie hat Briefe vorausgeschickt, in denen sie ihnen mitteilte, ich sei eine Art entfernte Verwandte von ihr, ein Mitglied ihres Hofstaats, und reise in die Pfalz, um gewisse Kunstgegenstände und Familienantiquitäten zu holen, die Liselotte nach dem Tod ihres Bruders eigentlich hätten zufallen sollen, um die sie jedoch mit ihren Halbgeschwistern lange habe feilschen und streiten müssen. Da es für eine Frau undenkbar sei, eine solche Reise selbst zu unternehmen, müsse ich in dem Kloster in St-Dizier warten, bis mein Begleitschutz eintreffe: ein unbedeutender Adliger aus der Pfalz, der mit Pferden und einer Kutsche dorthin kommen werde, um mich abzuholen und mich in Richtung Nordosten durch Lothringen und das undurchschaubare Gewirr von Grenzen östlich davon nach Heidelberg zu bringen. Meine Identität und meine Mission sind falsch, aber die Eskorte ist echt – denn ich brauche nicht zu betonen, dass die Menschen in der Pfalz ebenso begierig darauf sind, von dem ihnen bevorstehenden Schicksal zu erfahren, wie ihre gefangene Königin Liselotte.
Zum Zeitpunkt dieses Eintrags ist meine Eskorte noch nicht eingetroffen, und es kam auch keine Nachricht von ihm. Ich mache mir Sorgen, dass sie festgehalten oder sogar getötet worden sind, aber im Moment kann ich nichts anderes tun als morgens zur Messe zu gehen, nachmittags zu schlafen und nachts mit den Nonnen zu zechen.
Ich habe höfliche Konversation mit der Mutter Oberin gemacht, einer hübschen Frau um die sechzig, die beim Kommen und Gehen der jungen Frauen ein Auge zudrückte. Ganz nebenbei erwähnte sie, dass es in der Nähe eine Eisenfabrik gebe, und das weckte bei mir Zweifel an meiner Einschätzung dieser langsam schaukelnden chalands . Vielleicht transportierten sie nur Eisen und kein Blei. Als ich jedoch später mit den jüngeren Mädchen in die Stadt ging, sahen wir von weitem das
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