Quicksilver
für Märchen, die ihrem Hang zum Geordneten seltsam zuwiderläuft. Parallel zu ihrer aufgeräumten christlichen Welt gibt es die Märchenwelt, ein heidnisches Reich der Phantasie, der Wunder und Fabelwesen. Warum sie an die Märchenwelt glauben, ist mir immer ein Rätsel gewesen; allerdings bin ich dem Verständnis heute näher, als ich es gestern war. Denn gestern kamen wir in Nijmegen an.
Wir gingen sofort zum Rheinufer, und ich fing an, mich nach einem Kanalschiff in Richtung Rotterdam und Den Haag umzusehen. Unterdessen befragten Hans und Joachim Schiffsreisende, die von stromaufwärts gekommen waren. Kaum hatte ich mich in einer bequemen Kabine auf einem Kanalschiff mit Ziel Den Haag eingerichtet, als Joachim mich aufsuchte; im Schlepptau hatte er zwei Figuren, die geradewegs aus der Märchenwelt stammten. Es waren weder Gnome, noch Zwerge oder Hexen, sondern Prinzessinnen: eine ausgewachsene [ich glaube, sie ist noch keine dreißig] und eine winzige [sie hat mir bei drei verschiedenen Gelegenheiten erzählt, dass sie fünf Jahre alt ist]. Wie zu erwarten, trägt die kleine eine Puppe, von der sie beharrlich behauptet, sie sei auch eine Prinzessin.
Sie sehen nicht wie Prinzessinnen aus. Die Mutter, die Eleonore heißt, hat etwas Hoheitsvolles in ihrem Auftreten. Allerdings war mir das zunächst nicht klar, denn als sie zu mir kamen und Eleonore ein sauberes Bett [meins!] bemerkte und sah, dass Caroline – so heißt ihre Tochter – in meiner Obhut war, fiel sie augenblicklich in das Bett [meins], schlief ein und wurde erst ein paar Stunden später, als das Schiff schon längst abgelegt hatte, wieder wach. Währenddessen plauderte ich die meiste Zeit mit Klein-Caroline, die sich große Mühe gab, mir begreiflich zu machen, dass sie eine Prinzessin war; da sie dasselbe jedoch für das schmutzige Lumpenbündel geltend machte, das sie im Arm mit sich herumtrug, schenkte ich dem keine große Beachtung.
Doch Joachim behauptete beharrlich, die ungepflegte Frau, die da unter meiner Bettdecke schnarchte, sei von königlichem Geblüt. Ich wollte ihn schon schelten, er habe sich von Scharlatanen täuschen lassen, als mir langsam die Geschichten über die Winterkönigin wieder einfielen, die, nachdem sie von den Legionen des Papstes aus Böhmen verjagt worden war, als Landstreicherin durch Europa zog, bevor sie in Den Haag eine sichere Bleibe fand. Und meine Zeit in Versailles lehrte mich mehr als mir lieb war über die großen finanziellen Nöte, in denen viele Adlige und Angehörige der königlichen Familie ihr ganzes Leben verbringen. War es wirklich so undenkbar, dass drei Prinzessinnen – Mutter, Tochter und Puppe – verloren und hungrig im Hafenviertel von Nijmegen umherwanderten? Schließlich war der Krieg in diesen Teil der Welt gekommen, und der Krieg zerreißt den Schleier, der die Alltagswelt von der Märchenwelt trennt.
Bis Eleonore wach wurde, hatte ich die Puppe geflickt und mich so lange um Caroline gekümmert, dass ich mich für sie verantwortlich fühlte und bereit gewesen wäre, sie Eleonore zu entreißen, falls Letztere sich nach dem Aufwachen als eine Art Verrückte erwiesen hätte [was ganz und gar nicht meine normale Reaktion auf kleine Kinder ist, denn als ich in Versailles meine Rolle als Gouvernante spielte, war mir so manche Rotznase anvertraut worden, deren Namen ich längst vergessen habe. Aber Caroline war ein aufgewecktes Kind, mit dem man sich gut unterhalten konnte, und eine willkommene Abwechslung von der Art Leute, mit der ich in den letzten Wochen meine Zeit verbracht hatte].
Als Eleonore aufgestanden war, sich gewaschen und etwas von meinen Vorräten gegessen hatte, erzählte sie eine Geschichte, die zwar wild, aber nach modernen Maßstäben durchaus glaubhaft war. Sie behauptet, die Tochter des Herzogs von Sachsen-Eisenach zu sein. Sie heiratete den Markgrafen von Brandenburg-Ansbach. Die Tochter heißt eigentlich Prinzessin Wilhelmine Caroline von Ansbach. Doch dieser Markgraf starb vor ein paar Jahren an den Pocken, und sein Titel ging an einen Sohn einer früheren Frau über, der Eleonore immer als eine Art böse Stiefmutter betrachtet und die deshalb sie und Klein-Caroline aus dem Schloss geworfen hatte. Es verschlug sie wieder nach Eisenach, Eleonores Geburtsstadt. Das ist ein Ort am Rand des Thüringer Waldes, vielleicht zweihundert Meilen östlich von da, wo wir jetzt sind. Ihre Stellung in der Welt war damals genau umgekehrt wie meine: Sie besaß einen hohen Titel, aber
Weitere Kostenlose Bücher