Quicksilver
Churchill, ihr Oberbefehlshaber, aus dem Lager schleichen und sich Wilhelm von Oranien anschließen konnte. Das mochte einige von den Guards überrascht haben, nicht aber Daniel, denn er hatte dem Prinzen von Oranien fast ein Jahr zuvor in Den Haag persönlich Briefe von – unter anderem – John Churchill überbracht; und obwohl er diese Briefe nicht gelesen hatte, konnte er sich denken, was darin gestanden hatte.
Binnen weniger Tage waren Churchill und sein Regiment wieder in London gewesen. Doch wenn sie gehofft hatten, wieder in ihrem alten Quartier in Whitehall stationiert zu werden, waren sie enttäuscht worden. Wilhelm, noch immer darum bemüht, sich Klarheit über sein neu erworbenes Königreich zu verschaffen, stationierte seine eigenen Dutch Blue Guards in den königlichen Palästen von Whitehall und St. James und war froh, sich Churchill und die Black Guards im Tower auf Armeslänge vom Leibe halten zu können – denn dieser musste ohnehin verteidigt werden, da er die königliche Münze beherbergte, mit seinen Geschützen den Fluss beherrschte und das Hauptzeughaus des Reiches darstellte.
Nun war Daniel den Männern dieses Regiments als armer Kerl bekannt, den König James II. dort eingesperrt hatte; ein Hoch auf Daniel! Jeffreys hatte Meuchelmörder geschickt, um ihn umzubringen – ein doppeltes Hoch! Und er war zu irgendeiner niemals erwähnten Übereinkunft mit Sergeant Bob gelangt: ein dreifaches Hoch! Und so war Daniel in den letzten Wochen vor seiner »Flucht« eine Art Regimentsmaskottchen geworden – wie irische Regimenter sich riesige Wolfshunde hielten, so hatte dieses einen Puritaner.
Mit einem Wort, Mr. Bhnh durfte sein Boot durch den Tunnel unter der Pier manövrieren. Nachdem sie unter dem Bogen hindurchgefahren waren, erschien erneut kurz der Himmel, aber gut die Hälfte davon war vom vorspringenden Bollwerk des St. Thomas’s Tower verdeckt, einer Festung für sich, die in die Außenmauer des Towerkomplexes eingelassen war und einem weiteren steinernen Bogengang aufsaß, dessen Grund stinkendes Grabenwasser bildete. Ein Gittertor in diesem Bogen verstellte ihnen den Weg. Doch während sie näher kamen, wurde dieses Tor aufgezogen, und jede senkrechte Gitterstange erzeugte im Weggleiten einen Bogen öliger Wirbel. Mr. Bhnh zögerte, wie es jeder normale Mensch tun würde, und legte einen Moment lang den Kopf zurück, falls er nie wieder eine Möglichkeit bekam, den Himmel zu sehen. Dann stocherte er mit seiner Stange nach dem Grund.
»Das ist mein Familienwappen, wenn von dergleichen überhaupt die Rede sein kann«, bemerkte Daniel, »eine steinerne Burg über einem Fluss.«
»Sagt das nicht!«, zischte Mr. Bhnh.
»Wieso denn nicht?«
»Wir fahren gerade durchs Verrätertor!«
Hinter der schmalen Öffnung des Tors lag ein Becken, das von einem riesigen, schönen Bogen überwölbt wurde. Irgendein Mechanikus hatte dort unlängst eine gezeitengetriebene Maschine konstruiert, mit der sich Wasser in eine Zisterne irgendeines höher gelegenen Gebäudes im Innersten der Zitadelle heben ließ, und ihr fürchterliches Mahlen – wie ein Troll, der in einer Höhle mit den Zähnen knirscht – entsetzte Mr. Bhnh mehr als alles, was er in dieser Nacht gesehen hatte. Er war froh, sich verabschieden zu können. Daniel war an einer alten, mit Schleim überzogenen Treppe ausgestiegen. Er stieg sie vorsichtig bis auf Höhe der Water Lane hinauf, die zwischen den inneren und äußeren Befestigungen verlief. Sie war Standort eines behelfsmäßigen Lagers geworden: Mehrere Hundert Iren waren hier, hatten es sich auf Decken oder dünn aufgeschüttetem Stroh gemütlich gemacht, rauchten Pfeife, wenn sie Glück hatten, und spielten auf billigen Flöten durch Mark und Bein gehende Klagelieder. Hier brannten keine Freudenfeuer: bloß ein paar trübselige Kochfeuer, die Kesselböden zum Glühen brachten und den Händen und Gesichtern der Lagernden widerwillig schwache, rote Wärme spendeten. Es musste eine vernünftige Erklärung für ihre Anwesenheit hier geben, doch Daniel konnte sich keine vorstellen. Aber das war es, was das Stadtleben interessant machte.
Bob Shaftoe näherte sich, bedrängt von einer Horde Knaben, die barfuß herumliefen, obwohl es Dezember war. Barsch, ja sogar ein wenig grausam scheuchte er sie weg, und als sie sich abkehrten, um wegzulaufen, erhaschte Daniel einen Blick von einem der Gesichter. Er meinte, eine Familienähnlichkeit mit Bob zu erkennen.
Sergeant Shaftoe
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