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Quipu

Quipu

Titel: Quipu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Vidal
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zuckte Sebastián zusammen. Das war der Sinnspruch gewesen, den sein Onkel ihm damals mitgegeben hatte, die Lebensregel für die Stunden der Entscheidung, die nur sie beide kannten. Ihr Geheimnis.
    »Onkel Álvaro, du lieber Himmel, wie kommen Sie hierher? Ich wähnte Sie in Preußen!«
    Álvaro seufzte erleichtert auf, als er sah, dass sein Neffe ihn endlich wiedererkannt hatte.
    »Ich habe Spanien nie verlassen, Sebastián. Ich hielt mich die ganze Zeit hier versteckt.«
    »Wie, hier?«
    »Hier unten. Im alten Weinkeller.«
    Da fiel dem Ingenieur wieder ein, dass sein Vater die Kellerräume hatte herrichten lassen, als er seine Bibliothek und sein Arbeitszimmer in diesen Teil des Familiensitzes verlagerte. Der Zeitpunkt stimmte mit der Vertreibung der Jesuiten überein.
    »Und nur mein Vater wusste davon?«
    »Das Vertreibungsdekret belegt das Verstecken eines Jesuiten wie auch jegliche Beihilfe mit der Todesstrafe. Mein Bruder wollte niemanden sonst damit belasten.« Und als er den Blick des Neffen bemerkte, der ihn nur als tadellos gekleideten und rasierten Pater kannte, fügte er hinzu: »Entschuldige mein Äußeres; ich kann gut verstehen, dass du mich kaum wiedererkannt hast. Ich war knapp fünfzig, als ich mich in diesem Weinkeller versteckte. Jetzt bin ich ein alter Mann.«
    »Aber wie konnten Sie dort unten überhaupt leben?«
    »Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer es ist, keinen Mucks machen zu dürfen, damit die Bediensteten nichts merken. Ständig lebte ich in der Angst, krank zu werden. Dein Vater hatte mir zwar eine Wärmepfanne besorgt, aber dann habe ich eines Tages nicht aufgepasst, und es kam zu einem Brand, sodass Juan auch oben einen legen musste, um den meinen zu vertuschen und genug Wasser herbeischaffen zu können. Apropos Juan: Wo ist er überhaupt? Vor einer guten Weile hörte ich einen erstickten Schrei und dann ein Poltern. Ich habe mich erst ganz ruhig verhalten, aber als ich |37| dann jemanden auf die Tischplatte habe schlagen hören, dachte ich, sicher hat er eine Auseinandersetzung gehabt und muss sich abreagieren. Wo steckt er?«
    Da erhob sich Sebastián schwerfällig und sagte mit düsterer Stimme: »Mein Vater ist ermordet worden.«
    »Wie bitte??«
    Álvaro de Fonseca stürzte die Kellertreppe herauf und entdeckte sogleich die Decke, die den Leichnam seines toten Bruders verbarg. Mit zwei Sätzen war er bei ihm.
    »Mein Gott, Juan!«, schluchzte er. »Was haben sie dir angetan?«
    Dann kniete er nieder und betete mit von Schluchzern erstickter Stimme das Totenoffizium.
    »Requiescat in pace«,
schloss er schließlich sein Gebet und zog sanft wieder die Decke über das Gesicht des Toten.
    Dankbar ließ er sich von Sebastián danach aufhelfen und umarmte ihn ganz fest. Die Knie des alten Mannes schlotterten, sodass der Neffe ihn schnell zu einem Sessel führte.
    Während Sebastián vorsichtshalber die Tür verriegelte, begann Álvaro stockend den Mut seines Bruders zu loben, der sein Versteck trotz der drohenden Folterqualen nicht verraten hatte.
    »Das hat Juan nicht nur für mich getan, sondern auch für dich«, versicherte er seinem Neffen. »Du wärst ebenfalls für schuldig befunden worden, hätte man hier einen Jesuiten gefunden.«
    Aus der Erzählung seines Onkels erfuhr Sebastián, dass Álvaro ahnte, was für ein Opfer es für seinen Bruder gewesen war, ihn verstecken zu müssen. Ihn, den Jesuiten, der so oft mit aristokratischer Selbstgefälligkeit auf Juan de Fonseca herabgesehen und ihn Pantoffelhelden geschimpft hatte, weil er seine eigenwillige Frau anscheinend nicht zu bändigen verstand. Jahrelang hatten sie sich in ihrer Kindheit bekriegt, als die Fonsecas noch eine begüterte Adelsfamilie waren und sie den Erbfolgekrieg nachspielten, mit jenem Söldnerheer aus Lehm, bei dem der eine für Erzherzog Karl von Österreich kämpfte und der andere für Philipp V., den Bourbonen. Sie machten dabei so viel Radau, dass der Vater ihre Heere eines Tages wutentbrannt aus dem Fenster warf, worauf sie |38| ein einziges Mal im Leben dasselbe taten: Sie fingen bitterlich an zu weinen. Mit einer übergroßen Portion Schokolade hatte die Mutter sie über den Verlust hinwegtrösten müssen, und von da an hatte ihre Vorliebe ausschließlich den Büchern gegolten.
    »Wie ist es genau passiert?«, fragte der Onkel endlich seinen Neffen und trocknete sich die Tränen.
    »Keine Ahnung. Ich war im Theater. Dort gab es auch einen Toten«, erklärte Sebastián und erzählte ihm, was

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