Quipu
Hauptstrang, den dicksten, knüpfe ich an einer bestimmten Stelle einen Knoten, damit ich weiß, um welche Ortschaft es sich handelt.«
Und er ließ den Worten Taten folgen, bevor er fortfuhr: »An diese Schnur werden nun senkrecht eine Reihe dünnerer Schnüre geknüpft, für jeden Haushalt oder jede Familie eine. Und zur Vereinfachung verwende ich verschiedene Farben. Eine rote Schnur soll für die erwachsenen Männer stehen. Für jeden dieser Männer mache ich einen Knoten. Die blaue Schnur ist für die erwachsenen Frauen, deren Zahl ich ebenfalls mittels Knoten festhalte.«
»Und diese Berechnungen wurden jährlich aufgestellt?«
»Nein, alle zwei Jahre. Jedes Quipu gab Auskunft über zwei Jahre. Mit weiteren Schnüren konnte die Menge Mais oder Kartoffeln in den Dorfspeichern festgehalten werden. Oder die Lasttiere. Oder die Männer, die im Kriegsfall eingezogen werden konnten. Oder die Witwen, denen man beim Pflügen der Felder helfen musste. Das Gleiche galt für alle anderen Arten von Auskünften.«
»So weit verstehe ich es«, sagte Sebastián. »Das ist wie bei einem Rechenbrett. Aber was ist mit Geschichten, Gesetzen …?«
»Glauben Sie mir, man kann es«, antwortete Chimpu lächelnd, als er der Zweifel des Ingenieurs gewahr wurde. »Man kann alles mit den Schnüren festhalten. Es gibt feste Formeln, die einem dabei helfen; so wie Sie Europäer Kalender, Genealogien und sonstige Verzeichnisse haben. Der Bericht über eine Kazikenversammlung zum Beispiel beinhaltet in der Regel auch eine Liste |353| der Teilnehmer und ihrer Gefolgsleute, der Vorräte und Geschenke, die ausgetauscht wurden. Diese Formeln und Wiederholungen liefern ein Skelett, ähnlich dem der Schnüre und Knoten eines Quipus. Später werden sie dann von Menschen vorgetragen, die befähigt sind, diese für die Zuhörer auszuschmücken.«
»Aber das setzt eine sehr klare Weltsicht voraus und zwingt einen, diese in einer bestimmten Reihenfolge zu erinnern.«
»So ist es. Aber bedenken Sie einmal, welchen Vorteil das hat. Ist dieses Muster zur Denkweise geworden, so wird es auch verwendet, um das Land, die Bewässerung und den Ackerbau zu organisieren … Das Gleiche passiert doch auch mit Ihrem Alphabet: Hat man es einmal erlernt, liest man alles nach dieser bestimmten Ordnung.«
Da mischte Umina sich ein. »Vielleicht könnten Sie ihm dies alles auch an dem roten Quipu erläutern.«
Noch immer nicht ganz überzeugt, ging Sebastián es holen. Der
quipucamayo
fuhr vorsichtig mit den Fingern darüber.
»Es ist aus Alpakawolle gefertigt.«
»Ist das etwas Besonderes?«
»Ja. Etwas ganz Besonderes. Für gewöhnlich sind Quipus aus Baumwolle oder grober Wolle geknüpft. Alpakawolle ist viel feiner und hat glänzendere Farben.«
»Es stammt aus Vilcabamba«, erklärte Umina.
»Woher willst du das wissen?«, fragte Chimpu.
Umina zeigte ihm den Obsidianspiegel, der einst Sírax gehört hatte.
»Hier, schauen Sie, dieser eine Knoten in der Silberfassung. Das ist das Zeichen von Vilcabamba.«
Weder Sebastián noch Umina entging der sachkundige Blick, den Chimpu auf den Spiegel warf, ebenso wenig wie die ungeheure Behutsamkeit, mit der er die Schnüre erneut durch seine Hände gleiten ließ. Dann breitete er das Quipu auf dem großen Tisch aus. Den Hauptstrang legte er zu einem Kreis, um den er die dünneren Schnüre wie die Strahlen einer Sonne anordnete. Dann zählte er sie.
|354| »Einundvierzig Schnüre. Und ich schätze mal, dass es dreihundertachtundzwanzig Knoten sind.«
»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Sebastián ungläubig. »Sie haben Sie doch gar nicht gezählt.«
»Weil dieses Quipu ganz außergewöhnlich ist und ich glaube, dass derjenige, der es geknüpft hat, damit die
ceques
und
huacas
festgehalten hat: das größte Geheimnis des ganzen Reiches.«
»Umina hat mir erklärt, dass die
huacas
für die Indios so etwas wie heilige Orte sind: auffällige Erhebungen wie Berggipfel, Felsen mit leicht wiedererkennbarer Form, Höhlen oder Quellen. Aber was sind
ceques?
«, fragte Sebastián neugierig.
»Eine Art Koordinaten.
Ceque
bedeutet ›Strich‹. Es sind imaginäre Linien, die vom einstigen Sonnentempel Coricancha wie die Speichen eines Rades ausgingen, auf die die
huacas
aufgefädelt waren. Sie bildeten eine Art großes Spinnennetz, das sich in die vier Himmelsrichtungen des
Tahuantinsuyu
erstreckte.«
»Das heißt, die
ceques
legten sich über Täler, Flüsse und Berge und verwandelten so das Reich in
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