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Quipu

Quipu

Titel: Quipu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Vidal
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hervorzuquellen, die in alle Richtungen strömten, sich in Täler, Flüsse und Berge verwandelten und sich am Horizont verloren. Die junge Frau schien zu wissen, dass er sie betrachtete, und hob die rechte Hand. Anfangs verstand er diese Geste nicht, bis er die rote Schnur entdeckte, die zwischen ihren Fingern gespannt war. Und als sie ihre Hand noch weiter in die Höhe reckte, erkannte er das andere Ende der Schnur, das zur Brust der Mestizin führte, vielleicht sogar zu ihrem Herzen, |433| wo sich nun eine Höhlung auftat und er ein endloses Labyrinth aus Türen und Treppen erblickte, das bis in ihr tiefstes Inneres hineinreichte. Und dann bekam die rote Schnur plötzlich ein Eigenleben. Sie löste sich aus ihrem Herzen, vereinte sich mit dem Felsen unter dem Rock und sprudelte, in eine dicke Flüssigkeit verwandelt, wie ein dunkler Quell. Es war Blut, wie jenes, das der Müde Stein geweint hatte ob der vielen Toten, die er unter sich begraben hatte. Und nun war es kein harter Stein mehr, der der Mestizin als Thron diente, sondern etwas Schleimiges, eine Art pulsierender Gedärme, die sich in Tentakeln verzweigten und ihren Körper hochschlängelten, sie erstickten und mit sich rissen, ohne dass sie sich von diesem Wirrwarr hätte befreien können   …
    »Sebastián, wach auf!«
    Er fuhr hoch. »Was ist los?«, rief er verschreckt.
    Draußen war ein Donnern zu vernehmen. Je näher das Geräusch kam, umso lauter und ohrenbetäubender wurde es.
    »Eine Lawine«, sagte Umina.
    Eine erste Schneeschicht ließ ihre felsige Höhle von oben bis unten erzittern. Dann spürten sie den Aufprall weiterer Massen, das rasche Ausbreiten des alles mit sich reißenden Schnees. Zum Glück war ihr Unterschlupf durch einen Felsvorsprung geschützt. Nicht jedoch die Wand aus Steinen, die sie zum Schutz vor der Kälte am Eingang aufgeschichtet hatten.
    »Wir müssen die Steine abstützen, sonst brechen sie über uns zusammen!«, schrie Sebastián.
    Sie stemmten sich dagegen, und dann rollte die Schneelawine über sie hinweg und hüllte ihren Unterschlupf ein. Sie waren begraben.

|434| Guanipata
    S ie versuchten,die Wärme zu erhalten,bis es hell wurde. Erst als ein schwaches, milchiges Licht den Schnee vor ihnen erhellte, begannen sie, mühsam den Eingang von den Schneemassen freizuschaufeln.
    Qaytu war als Erster draußen, wandte sich aber sogleich zu ihnen um und gestikulierte aufgeregt.
    »Ich weiß nicht, ob das gute oder schlechte Nachrichten sind«, murmelte Sebastián.
    »Hilf mir raus«, rief Umina dem Maultiertreiber zu.
    Als sie draußen war, hielt sie dem Ingenieur erleichtert die Hand hin.
    »Wir kommen weiter! Wir können unseren Weg fortsetzen.«
    Sie umarmten sich freudig. Die tiefe Spalte, die sie nach dem Einsturz der Eisbrücke vom Gletscher abgeschnitten hatte, war von der Lawine zum Großteil mit Schnee gefüllt worden, sodass sie nun zumindest hinabsteigen und unten nach einem Ausgang suchen konnten.
    »Es wird sehr gefährlich werden«, stellte Sebastián fest.
    »Nachdem wir dem Tod so nah waren, ist mir alles recht.«
    Vorsichtig machten sie sich an den Abstieg bis zu einer großen Eishöhle. Je tiefer sie vordrangen und je mehr es taute, umso häufiger kam es zu Erschütterungen. Die Eismassen krachten bedrohlich. Sie mussten ganz nah am Rand des Stollens entlanggehen, da sich in der Mitte ein Bach gebildet hatte. Dessen Strömung wurde immer gewaltiger und riss ganze Eisblöcke mit sich, die gegen die Wände donnerten und weitere Eismassen ablösten.
    |435| Nach einer Weile vernahmen sie ein immer lauter werdendes Tosen. Das Bett des Baches fiel steil nach unten ab. Von oben konnten sie sehen, wie das Wildwasser sich schäumend durch eine Felsspalte kämpfte und in Dutzenden von Kaskaden auf ein paar spitze Felsen ergoss. Durch den Aufprall des Wassers auf dem Boden bildete sich ein Vorhang, den das durch eine Höhlenöffnung hereinfallende Licht in leuchtende Regenbogenfarben tauchte.
    Sie sahen sich um. Sie befanden sich in einer großen Höhle aus schwarzem Stein. Im Gegenlicht konnten sie erkennen, dass quer über deren Ausgang wie eine natürliche Schranke Baumstämme und Äste lagen.
    Der Wall war schwieriger abzutragen als erwartet, und der Berg über ihnen begann zu erzittern. Qaytu und Umina wollten deshalb unverzüglich über das freigelegte Loch hinausklettern.
    »Nicht! Zurück!«, schrie jedoch Sebastián.
    Man hörte ein lautes Donnern, und auf den schmalen Gang, durch den sie hatten flüchten

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