Quipu
hereingelassen, damit er es mir übergeben konnte. Er ist also kein Feind, sondern hat uns einen großen Dienst erwiesen.«
Protestschreie wurden laut. Das fehlte ja noch, dass der Inka vor die Entscheidung gestellt wurde, ob er die Aussage seiner Schwester über die Meinung des Obersten Priesters stellte.
Túpac Amaru hob die Hand und bat um Ruhe.
»Sírax hat recht«, sagte er. »Wenn er sie vor den Soldaten errettet und ihr den
Yahuar quipu
wiedergebracht hat, dann verdient er unsere Gastfreundschaft. Ich bestimme also, dass er freigelassen wird«, urteilte er. »Doch wir müssen vorsichtig sein, wie es unser Oberster Priester verlangt. Deshalb werden wir die Gesandtschaft des Vizekönigs, die vor unseren Toren wartet, nicht empfangen.«
Das ist kein Inka, sondern ein zweiter Salomon, dachte Diego und hob den Blick, um sich von Sírax zu verabschieden, die in den Hintergrund getreten war.
Beim Verlassen des Palastes sah er sie ein weiteres Mal, |191| als er bereits zu der Mauer gebracht wurde, die ihn von der spanischen Gesandtschaft trennte. Er versuchte sich ihren federleichten Gang einzuprägen und ihr schönes, von pechschwarzem Haar umrahmtes Gesicht. Ob ich sie wohl jemals wiedersehen werde?, fragte er sich. Er war wegen jenes Quipus beunruhigt, das so viel für ihr Volk zu bedeuten schien. Und auch für sein eigenes Schicksal und das der jungen Frau, als seien sie dadurch unlösbar miteinander verbunden …
»Wie anders wirken die in dieser Chronik geschilderten Ereignisse, wenn Sie sie mir erzählen«, gestand Sebastián Umina.
»Das macht der Branntwein, den ich Ihnen gegeben habe«, erwiderte sie lächelnd.
Sebastián hatte das nicht gesagt, um ihr zu schmeicheln. Durch die Nacherzählung der Mestizin wurde diese vergangene Welt für ihn auf einmal ungeheuer lebendig. Aus den Tiefen der Jahrhunderte drangen Landschaften und Gebräuche und verwoben sich mit den Stimmen der Menschen, die dadurch zu neuem Leben erwachten.
So erfuhr er nach und nach die Geschichte von Sírax und Diego de Acuña, bis Umina ihm eines Tages, als der Ingenieur zum Schiffsbug zurückkehren wollte, sagte:
»Seien Sie vorsichtig. Kapitän Valdés zufolge nähern wir uns dem Karibischen Meer, und dort kommt es häufig zu Zwischenfällen mit feindlichen Schiffen und Piraten. Er hat mich gebeten, mich mit Qaytu in einen anderen Raum zurückzuziehen, damit die Kanonen über dem Ruder wieder eingesetzt werden können. Sie waren entfernt worden, damit wir die Geschützpforten als Fenster nutzen können.«
Sebastián verabschiedete sich und machte sich auf den Weg durch die Kampfgasse. Doch als er am Ende des Ganges angekommen war, stellte er fest, dass die Tür dort verschlossen war. Verdammt, sie muss doch aufgehen!, stieß er zwischen den Zähnen hervor, während er sie mit beiden Händen aufzustemmen versuchte.
|192| Trotz des Einsatzes all seiner Kräfte gab sie keinen Zoll nach. Irgendjemand hatte sie von außen verriegelt.
So schnell es ihm die gebückte Haltung erlaubte, lief er den engen Gang zurück. Als Sebastián schließlich an der Treppe zur Heckluke ankam, war er schweißgebadet, und sein Herz schlug heftig. Er kletterte die Stufen hinauf, um die Klappe über seinem Kopf aufzustoßen. Doch auch diese gab nicht nach. Er nahm all seine Kraft zusammen und versuchte es erneut. Vergebens: Er saß in der Falle.
|193| Der Sturm
S ebastián atmete tief durch. Die Tatsache, dass Qaytu ihm nicht öffnete, musste nicht bedeuten, dass Umina ihn verraten hatte.
Sie hatte ihm ja gesagt, dass sie und ihr Leibwächter sich im Falle eines Alarms in eine andere Kabine zurückziehen sollten. Das würde erklären, warum Qaytu seinen angestammten Wachposten hatte räumen müssen.
Wer aber hatte die andere Seite verriegelt, die Tür, über die man vom Bug aus in die Kampfgasse gelangte? Vielleicht war das lediglich eine Sicherheitsmaßnahme zur Vorbereitung des Gefechts. Obwohl … das konnte nicht sein, gerade dann musste der Gang für die Kalfaterer zugänglich sein. Hatte ihn jemand beobachtet, als er sich auf den Weg zu Umina machte?
Die Essensglocke riss ihn aus seinen Gedanken. Das war der Augenblick,in dem Miguelito für gewöhnlich das Essenstablett zu Umina und Qaytu brachte. Der Schiffsjunge musste jeden Augenblick kommen. Er würde an die Tür der Zwischenwand klopfen, damit Qaytu ihm öffnete. Der würde ihn jedoch nicht hören, so, wie er auch sein Klopfen nicht vernommen hatte. Der Schiffsjunge würde
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