Quipu
Haupttreppe der »África« hinabstiegen, schien sich eine Sturmwolke in dem prall gefüllten Segelwerk zu verfangen, und ein Hagelschauer ging über ihnen nieder. Hagelkörner prasselten auf die Segel und das Holz, schlugen Löcher ins Deck und trafen ihre Gesichter. Erst als die beiden die Treppe neben dem Besanmast erreichten, über die sie zur unteren Heckkabine hinabstiegen, fühlten sie sich sicherer.
Der Wind wurde immer stärker und das Meer immer wilder, bis es schließlich eine dunkelgrüne Farbe angenommen hatte. Das Schiff schoss über die weißen Kämme der riesigen Wellen, um anschließend knirschend und krachend in den offenen Abgrund der Wellentäler zu stürzen. Große Wassermassen ergossen |199| sich über das Deck, Spritzwasser klatschte gegen das Vorschiff. Blitz und Donner boten ein so erschreckendes Schauspiel, dass das ganze Schiff in Flammen zu stehen schien.
Es war der entscheidende Augenblick. Die Engländer waren noch immer in Sichtweite. Nur wenn sie diesen Kurs beibehielten, würden sie ihnen entkommen. Da hörten Sebastián und Miguelito in ihrem Gefängnis einen heftigen Schlag gegen das Heck. Irgendetwas zertrümmerte das Bullauge ihrer Kabine und fiel anschließend nach unten.
Sie traten an das zerbrochene Fenster, durch das das Wasser der gewaltigsten Wellen hereinspritzte, aber sie konnten nichts erkennen. Erst als das Schiff vom Kurs abkam und vom Achterdeck Schreie erklangen, verstanden sie die Tragweite des Vorfalls:
»Das Ruder reagiert nicht!«
Als Sebastián die Lage erfasste, hatte Miguel bereits einen Strick um die am Boden verschraubten Tischbeine gebunden und sich aus dem kaputten Fenster hinabgelassen. Von dort aus konnte Sebastián erkennen, was der Schiffsjunge vorhatte: Er wollte das Ruder befreien, das durch ein Beiboot blockiert worden war. Die kleine Jolle, die normalerweise von den hinteren Davits herabhing, hatte sich durch den heftigen Seegang auf einer Seite gelöst und war zu einem Pendel geworden. Nachdem sie gegen das Fenster ihrer Kabine gekracht war, hatte sie sich auf Höhe der Wasserlinie mit dem Ruder verkeilt. Nun klemmte sie, gehalten von der Ruderkette und dem Strick, zwischen Kiel und Ruderblatt. Nur wenn sie von dort entfernt würde, konnte das Schiff seinen Kurs und seine Manövrierfähigkeit wiedererlangen. Andernfalls wäre es eine leichte Beute für den Sturm und die Engländer.
Der Ingenieur überlegte nicht lange und ließ sich ebenfalls hinab, um Miguel zu retten.
Als er den Vorsprung der Kabine, der ihm die Sicht auf den Schiffsjungen versperrt hatte, hinter sich gelassen hatte, erkannte er erst, in welcher Gefahr Miguel sich befand. Der todesmutige Junge hoffte, eine Welle würde das Ruder bewegen und so das Beiboot freisetzen. Das würde es ihm ermöglichen, sie von dem |200| Strick zu befreien, an dem sie hing. Doch sobald er das kleine Boot freibekäme, würde das Ruder ihn unweigerlich zermalmen.
In diesem Augenblick fegte eine riesige Welle der Länge nach über das Schiff hinweg und überzog es mit einem weißen Schaum. Es wurde so heftig geschüttelt, dass es auseinanderzubrechen drohte.
Durch diese heftige Bewegung war es Miguel gelungen, die Jolle von dem Strick zu lösen. Das Boot fiel hinab ins Meer, und das Ruder war wieder frei. Der tapfere Schiffsjunge hatte es geschafft. Doch nun war er es, der Gefahr lief, zerquetscht zu werden. Schon knallte eines der bronzenen Scharniere des Ruderblatts gegen den Kopf des Jungen, der sofort zu bluten anfing.
Wäre nicht Sebastián in diesem Augenblick zur Stelle gewesen und hätte Miguel aufgefangen, so wäre dieser bewusstlos ins Meer gestürzt. Doch nun konnte der Ingenieur nicht mehr hochklettern. Mit einem Arm umklammerte er das Seil, an dem er sich heruntergelassen hatte, während er mit dem anderen den Jungen über dem stürmischen Meer festhielt, das sie beide zu verschlingen drohte.
In diesem Augenblick näherte sich, hoch wie ein Berg, eine weitere Welle, überrollte das Schiff vom Bug bis zum Heck und schüttelte es wie ein Spielzeug hin und her. Es erzitterte in seinen Grundfesten und krängte so sehr, dass es fast kenterte.
|201| Bitteres Erwachen
E s verging eine halbe Ewigkeit. Verzweifelt um Halt ringend, hörte Sebastián dann auf einmal jemanden rufen und spürte, wie an dem Seil, an dem er und der Junge zwischen Ruderblatt und Bordwand hingen, gezogen wurde. Es war Hermógenes, der beim Reparieren der Schäden, die die Jolle verursacht hatte, gewahr geworden
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