Rabenblut drängt (German Edition)
ahnen, dass der junge Hund den kleinen Jungen beißen würde, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. Nein, das konnte sie wirklich nicht.
»Es hat dich ziemlich erwischt, oder?«
Ich brachte es nicht fertig zu nicken und drehte meinen Kopf zum Fenster, damit sie nicht sah, dass ich schon wieder heulte.
Lara ging zur Tür. »Vergiss nicht den Kakao zu trinken«, sagte sie. Und beinahe sofort merkte ich, wie ihr mütterlicher Ton mich endgültig niederstreckte, ich sinnlos in Tränen ausbrach und mein Kopfkissen bis zur Unkenntlichkeit zerknüllte. Wieso hatte ich ihn nur geküsst? Warum hatte er nicht vorher schon verschwinden können?
Mir war hundeelend. Ich hatte das Gefühl, mindestens gerädert oder gevierteilt worden zu sein. Oder als hätten die Raben aus meinem Traum ihre Schnäbel in meine Brust gebohrt und kleine Brocken herausgerissen.
Wenn ich doch nur wüsste, wohin er gegangen war. Wohin konnte man schon gehen, wenn man splitterfasernackt war? Ich würde so garantiert nirgendwo hingehen! Aber das hieß ja nichts. Alexej war schließlich auch nackt gewesen, als wir ihn im Wald gefunden hatten.
Also doch kein Eremit aus dem Wald, sondern aus irgendeiner verrückten Hippie-Kommune? Gab es so was überhaupt noch? Ein Nudisten-Club vielleicht? Ich musste lachen und beinahe zeitgleich heulte ich wieder. Was hatte er nur zu verbergen? Was war so schlimm, dass man es niemanden anvertrauen konnte? Eigentlich kam dafür doch nur ein Verbrechen infrage.
Er hatte behauptet, Nikolaus wäre nur gekommen, um ihn abzuholen, aber dass dessen Auto schon fort war, ist mir erst viel später aufgefallen. War das nur eine Ausrede gewesen? Hatte er mir vielleicht einfach nur zugestimmt, damit er nicht gezwungen war, weitere Erklärungen abzugeben? Und wenn sein Freund ihn nicht mitgenommen hatte, war Alexej noch immer irgendwo im Wald?
Obwohl mein Kopf pochte, als würde er gerade von einem Specht bearbeitet, rollte ich mich auf die Seite und über die Bettkante. Mit brennenden Beinen schleppte ich mich zum Kleiderschrank und zog frische Unterwäsche, Jeans und einen Pullover heraus.
Ich war krank und gehörte ins Bett, das war mir klar, aber diese Ungewissheit machte mich wahnsinnig. Er konnte sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben.
Ich schlich mich in den Garten, die Angst im Nacken, Lara oder Marek könnte mich entdecken und sofort wieder ins Bett stecken. Als ich den Boden nach Fußspuren absuchte, fiel mir auf, dass ein riesiger Fleck Gras umgegraben worden war. Genau an der Stelle, an der ich Alexejs Vogel beerdigt hatte. In der Luft hing ein seltsam süßlicher Geruch nach angefaultem Obst. Ich versuchte dem Geruch nachzugehen, aber meine Nase war nicht gerade in bester Verfassung etwas zu wittern.
Das Bild von meinem Alptraum tauchte wieder vor meinem inneren Auge auf und ließ mich unwillkürlich den grauen Himmel absuchen. Wo waren eigentlich die Raben geblieben, die mich in den letzten Wochen beinahe ständig begleitet hatten? Sie hatten mich ja geradezu verfolgt, und jetzt konnte ich sie nirgendwo mehr entdecken.
Ich hielt Ausschau nach zertretenen Schösslingen, platt gedrückten Bodendeckern und abgebrochenen Zweigen.
Mittlerweile war ich einigermaßen geübt darin Spuren zu lesen, seien es Pfotenabdrücke auf dem Boden, Kotspuren, Fraßspuren oder Haarreste, die sich an der Baumrinde fanden, von Tieren, die sich dort genüsslich gescheuert hatten. Aber menschliche Spuren waren etwas ganz anderes, schließlich war Alexej nicht mit derben Stiefeln grob durch den Wald gepflügt, sondern barfuß mit leichtem Schritt gelaufen. Er hätte allenfalls zarte Abdrücke hinterlassen, die ich aufgrund des vielen Laubs vielleicht nie entdecken würde.
Ich ging immer tiefer in den Wald. Das Hämmern in meinem Schädel nahm an Intensität zu, und ich presste meine Fingerspitzen gegen die Schläfen. Nur mal kurz anlehnen, dachte ich erschöpft. Meine Beine zitterten und drohten unter mir einzuknicken, also ließ ich mich langsam auf den Waldboden sinken. Es war kalt und ungemütlich, aber dafür glühte mein Kopf. Ich schloss kurz die Augen. Nur einen kleinen Moment ausruhen. Mein kleiner Bruder hatte früher immer behauptet, er suche nur die Augenlider nach Verletzungen ab. Weil er nicht zugeben wollte, dass er hundemüde war. Ich lächelte lahm. Ich sollte wirklich aufstehen.
Viel später schreckte mich ein lautes Krächzen auf. Ich saß immer noch am Baum, den Oberkörper in unnatürlicher Haltung zur
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