Rabenfeuer - Die Flammen der Goettin
hatte er jegliches Gespür für Zeit verloren. Wochen, Monate und Jahre waren vergangen und er hatte aufgehört, sie zu zählen. An vielen Tagen sah er das Sonnenlicht überhaupt nicht: Seine Arbeit begann frühmorgens und endet spät in der Nacht. Wenn er das Bergwerk verließ, schleppte er sich müde zu seiner Mutter nach Hause in die Kate, aß und fiel erschöpft ins Bett.
Raven rieb sich die Augen, bevor er einen weiteren leeren Eimer griff. Die Dunkelheit im Inneren des Berges wurde von Talglampen erhellt, deren Rauch in den Augen biss. Er nahm seine Hand fort, blinzelte und füllte das Gefäß.
Im Sommer und Winter war es im Bergwerk gleichbleibend kühl und die Luftfeuchtigkeit hoch. Die dicke Kleidung mit der spitz zulaufenden Kapuze, die ihn vor Kälte schützen sollte, nützte nichts, denn sie war nach kurzer Arbeitszeit durch das Wasser durchnässt und klebte auf seiner Haut.
Der volle Eimer wurde Raven aus der Hand genommen und er nahm den nächsten. Seine Hoffnungen an die Arbeit im Bergwerk hatten sich nicht erfüllt. Die Grubenmeister hatten ihn nicht als Lehrling ausgewählt, sondern als Wasserknecht eingeteilt. Die anderen Wasserknechte waren auf seine Freundschaftsangebote nicht eingegangen und hielten Abstand zu ihm. Und irgendwann hatte er aufgegeben: erst seine Bemühungen, durch gute Leistungen doch das Interesse der Grubenmeister auf sich zu ziehen, dann die Gesprächsversuche mit den anderen Männern und am Ende sich selbst.
Das Füllen des Pfützeimers war sein ausschließlicher Daseinszweck geworden – vom Leben hatte er nichts mehr zu erhoffen als den Tod. Auch dieser würde nicht mehr lange auf sich warten lassen, denn Wasserknechte wurden nicht alt. Mittlerweile konnte er über die naiven Vorstellungen, die er in seiner Kindheit und Jugend gehabt hatte, nur noch lächeln. Die Tage, an denen er mit Amartus unbeschwert durch den Wald gestreift war, schienen zu einer anderen Zeit zu gehören. Die Erinnerung daran stimmte Raven traurig, weil der Hüter Sehnsüchte in ihm geweckt hatte, die sich – wie er jetzt wusste – nie erfüllen würden. Deshalb verbot er sich jeden Gedanken daran, was ihm meist gelang.
Das Einzige, was er nicht kontrollieren konnte, waren seine Träume. Jede Nacht war es das gleiche Bild: Er galoppierte auf einem Hengst durch buntes Laub und die Sonne wärmte seinen Rücken. Ihr helles Licht brach sich in dem funkelnden Schwert in seinem Gürtel und den Waffen der Kriegerschar, die ihn begleitete. Sie ritten nach Hause – wo immer es liegen mochte. Scherzworte flogen zwischen ihm und den Männern hin und her und verrieten die gute Stimmung, in der sich alle befanden. Wenn sie ihr Ziel erreichten, so spürte er, würde nicht nur seine Mutter dort auf ihn warten ...
Raven presste die Lippen zusammen und stieß den Eimer so heftig in die Pfütze, dass das Wasser nach allen Seiten spritzte. Er würde niemals ein Krieger sein, genauso wenig wie er jemals eine Frau haben würde. Er war arm, ein Außenseiter und durch seinen körperlichen Makel für jeden sichtbar gezeichnet von der Göttin. Sogar die Huren in der Siedlung verzogen das Gesicht, wenn er zu ihnen kam, obwohl sie sein Geld gerne nahmen. Wahrscheinlich war der wiederkehrende Traum eine Strafe der Göttin – sie verhöhnte ihn ebenso wie seine Mitmenschen.
»Hey, Raven, schläfst du?« Ein älterer, kugelbauchiger Vorarbeiter trat zu ihm und schüttelte ihn grob an der Schulter. »Nimm den Eimer und komm mit in den neuen Stollen, ihr werdet dort gebraucht.«
Raven erhob sich und folgte ihm gemeinsam mit den anderen Wasserknechten tiefer in den Berg hinein. Vor wenigen Tagen hatte ein Grubenmeister dort eine neue, vielversprechende Silberader entdeckt. Normalerweise wurde ein solcher Fund erst eingehend auf seine Ergiebigkeit geprüft, bevor der Stollen erweitert und gesichert wurde und anschließend der Abbau begann. Diesmal verhielt es sich anders. Noch während der Stollen ausgebaut und die Wände und Decken mit Holzbalken gestützt wurden, war mit dem Silberabbau begonnen worden. Das hatte einen Grund: Fürst Wegon war vor einer Woche bei einem tragischen Unglück ums Leben gekommen. Mitten in der Nacht war ein Feuer im Zimmer des Herrschers ausgebrochen und hatte ihn im Schlaf überrascht. Niemand konnte sich erklären, wie der Brand entstanden war. In dem zerstörten Raum waren keine Hinweise mehr auf die Ursache zu finden gewesen.
Sieben Tage lang hatte Prinz Heron um seinen Vater getrauert, bis
Weitere Kostenlose Bücher