Rabenfeuer - Die Flammen der Goettin
Er nahm einen Apfel heraus und biss gedankenverloren hinein. Wenn er sich an Amartus‘ Erzählungen richtig erinnerte, würde er am Abend das große Dorf Ferling erreichen, die letzte Siedlung vor dem Grenzgebiet. Von dort aus müssten es noch zwei Tagesritte durch das Gebirge sein, bis er zum Tempel kam.
Raven steckte sich den Apfel in den Mund und begann den Aufstieg aufs Pferd. Es lag noch eine lange Wegstrecke vor ihm.
Am Abend des übernächsten Tages stand Raven auf dem Kamm eines baumlosen Hügels und sah auf die weite Ebene hinunter, die bereits zum Land Torain gehörte.
Direkt am Fuße des Berges lag die Tempelanlage, umgeben von einer hohen Mauer. Der eigentliche Tempel, in dem das heilige Feuer befragt wurde, befand sich nahe dem Haupttor zur Talseite hin. Flankiert wurde das eindrucksvolle Gebäude von zwei langen, flachen Steinhallen, deren Zweck Raven aus der Entfernung nicht erkennen konnte. Ein weiteres, viel kleineres Steinhaus stand an der Rückseite des Tempels. Den hinteren Bereich der Anlage nahmen aus Holz errichtete Langhäuser ein, die vermutlich als Wohnraum für die im Tempel lebenden Menschen und als Gästehäuser dienten. Auch Scheunen und Ställe für Tiere befanden sich dort.
Die untergehende Sonne tauchte die weiß gekalkte Außenmauer und die Gebäude in ein goldenes Licht und verliehen dem gesamten Tempelbezirk ein wundervolles Leuchten. Fasziniert beobachtete Raven das Schauspiel. Es war ein unbeschreiblicher Anblick – friedlich, als wäre die Göttin selbst zugegen.
Erst als die Sonne hinter den Hügeln der Grauen Berge versank und die ersten Sterne am Himmel erschienen, wandte er den Blick ab. Er nahm die Zügel des Rappen, der die Zeit zum Grasen genutzt hatte, und sah sich nach einem Schlafplatz um. Keinesfalls durfte er sich von der Schönheit der Tempelanlage täuschen lassen, denn dieser Ort könnte eine tödliche Gefahr für das Reich der Sarwen bergen. Doch er würde tun, was notwendig war, um dies zu verhindern. Auch wenn ihn jetzt, wo die Erfüllung seines Auftrages so nah lag, ein mulmiges Gefühl beschlich ...
Am nächsten Morgen erwachte Raven, weil Goriks Schwanzfedern ihn in der Nase kitzelten. Er blinzelte, setzte sich auf und sah in die Morgendämmerung. »Gorik, was soll das?«, fragte er verärgert. »Weißt du, wie früh es ist? Die Sonne geht gerade erst auf!«
Der Rabe kümmerte sich jedoch nicht um seine Beschwerde und hüpfte weiter munter um ihn herum. Knurrend stand Raven auf und rieb sich mit der Hand über den Körper. Es wurde Herbst, und so warm die Tage noch waren, in den Nächten war es bereits empfindlich kalt. Ohne den warmen Umhang, den er erhalten hatte, hätte er nicht im Freien übernachten können.
Er nahm eine Scheibe Brot und ein Stück Fleisch aus der Provianttasche und warf Gorik ein paar Stückchen zu, bevor er sich selbst seinem Frühstück widmete. Seit sie gestern hier angekommen waren, benahm sich der Rabe wirklich sonderbar. Er wirkte aufgeregt und schien es – im Gegensatz zu ihm – gar nicht abwarten zu können, ins Tal zu kommen. Raven schluckte den letzten Bissen Brot hinunter, trank etwas Wasser und begann, den Rappen zu satteln. Gorik hatte recht: Es war an der Zeit, sich seiner Aufgabe zu stellen, ehe ihn der Mut noch verließ.
Kurz darauf ritt er auf einem sich sanft windenden Pfad hinunter in die Ebene. Gorik hatte auf seiner Schulter Platz genommen und schien die Gegend ebenso aufmerksam zu betrachten wie er selbst. Je tiefer sie kamen, desto deutlicher konnte Raven erkennen, was in der Tempelanlage vor sich ging: Mägde trieben Ziegen, Schafe und Kühe durch eine kleine Seitenpforte auf die umliegenden Weiden, Knechte ernteten die letzten Getreidefelder ab und Wächter patrouillierten auf dem Wehrgang der Mauer. Seinem ersten Eindruck nach verbarg sich hier kein Heer Yldas, doch er wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen.
Am Fuße des Hügels angekommen, folgte Raven dem Weg entlang der Mauer um die Tempelanlage herum bis zum Haupttor. Inzwischen waren viele Reisende zum Tempel unterwegs, so dass er unauffällig die Gegebenheiten in Augenschein nehmen konnte. Die beiden großen Torflügel waren weit geöffnet und gaben den Blick auf den Tempel frei: ein mächtiges, hohes Gebäude, dessen Dach auf großen, verzierten Säulen ruhte. Breite Stufen führten hinauf zu einer Terrasse, dahinter erkannte Raven ein Portal, das ins Innere zum heiligen Feuer führen musste.
Besucher, die Einlass zum Tempel begehrten,
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