Rabenfeuer - Die Flammen der Goettin
wie es völlig belanglos war, ob er diese bestand oder nicht. Denn in sieben Tagen würde er überhaupt nicht mehr da sein. Seine Stellung als Knecht erlaubte es ihm, überall in der Tempelanlage herumzulaufen. Er würde schnell herausfinden, ob sich tatsächlich Männer der Fürstin Ylda hier versteckten. Sobald er das wusste, würde er diesen Ort verlassen. Schließlich warteten Heron und die Ernennung zum Krieger auf ihn!
»Ich bringe dich jetzt zu Tomin«, teilte Kara ihm mit, als sie wieder im Freien standen. »Er kann dich in die Arbeit einweisen.«
Sie liefen zwischen den hölzernen Langhäusern hindurch in den hinteren Bereich der Tempelanlage, wo sich die Stallungen und Scheunen befanden. Die Sonne schien warm vom wolkenlosen Himmel und ein angenehm milder Wind wehte.
»Ein schöner Herbsttag«, bemerkte Kara und lächelte ihn an.
Raven konnte nicht anders, als ihr Lächeln zu erwidern. Sogleich strahlte sie über das ganze Gesicht und es schmeichelte ihm, dass er diese Freude in ihr hervorrief. Kara mochte eine naive, leichtgläubige Frau sein, aber zugegebenermaßen eine verdammt hübsche. Ihr offensichtliches Interesse an seiner Person – so unverständlich es war – gefiel ihm.
Vor einer der Scheunen sahen sie Tomin laufen, und Kara rief dem Knecht zu, er solle auf sie warten. Als sie bei ihm ankamen, fasste Kara das Gespräch mit Theon zusammen, dann ließ sie Raven mit Tomin alleine.
»Ich wollte die Heuballen auf dem Speicherboden stapeln«, erklärte Tomin. »Du kannst mir dabei helfen.«
Er ging voraus und Raven folgte ihm in das Holzgebäude hinein. Im unteren Bereich standen Heuwagen, eine Traubenpresse sowie Körbe verschiedener Größen. An den Wänden hingen Sensen, Sicheln und Rechen. Tomin lief in die hintere Ecke der Scheune, in der eine Leiter lehnte, die nach oben in eine Luke führte. Rasch kletterte er hinauf und bedeutete Raven, ihm nachzukommen.
Mit der Hand hielt Raven sich an der Leiter fest und setzte den rechten Fuß auf die erste Sprosse. Vorsichtig hob er die linke Hüfte und zog so sein steifes Bein auf die Sprosse nach. In diesem Moment war er froh, als Wasserknecht täglich über Leitern hatte steigen zu müssen, um in die Tiefe des Bergwerks zu gelangen. Ansonsten wäre er hier bereits gescheitert. Langsam arbeitete er sich weiter nach oben, bis er auf der letzten Sprosse stand. Mit der Brust lehnte er sich an die Lukenöffnung und sah frustriert auf den Heuboden: Der Abstand war zu hoch, er konnte nicht hinaufklettern. Mit zwei gesunden Armen hätte er sich auf dem Boden abgestützt und nach oben gedrückt, mit nur einem Arm war das auf der wackeligen Leiter zu riskant.
Tomin, der bereits in Richtung der Heuballen gegangen war, bemerkte sein Fehlen und kehrte zu ihm zurück.
»Warte, Raven, ich helfe dir.« Er streckte ihm seine Hand entgegen, um ihn hochzuziehen.
Raven zögerte. Auch im Bergwerk hatte er beim Leitersteigen in manchen Stollen fremde Hilfe gebraucht. Mehr als einmal hatten sie ihn losgelassen und er war in die Tiefe gestürzt. Zum Glück hatte er sich dabei nie etwas gebrochen, doch das Hohngelächter war genauso schlimm gewesen wie die Prellungen, die er sich jedes Mal zugezogen hatte. Aber wie immer hatte er keine Wahl und war dem Wohlwollen eines anderen ausgeliefert. Sollte Tomin es darauf anlegen, konnte er ihn sofort spüren lassen, wer mehr Macht besaß.
Langsam ließ Raven die Leiter los und griff Tomins Hand. Der junge Knecht zog kräftig daran, einen Augenblick später lag Raven bäuchlings auf dem Heuboden. Schnell richtete er sich auf, um aus dieser demütigen Pose zu entkommen. Tomins Augenmerk galt jedoch längst nicht mehr ihm, sondern war auf die Heuballen gerichtet, die sich bereits auf dem Boden befanden.
»Was meinst du, Raven«, fragte er ohne sich umzudrehen, »wenn wir die Ballen dreifach übereinanderstapeln, dann sollten noch zwanzig mehr reinpassen, oder?«
Kein Spott, keine beleidigende Bemerkung? Erneut konnte Raven nur den Kopf schütteln. Kara und ihre Freunde waren in der Tat anders als alle, die er kannte.
Drei schwere Gongschläge hallten über den Tempelbezirk und Tomin sah von seiner Arbeit auf. »Zeit zum Mittagessen«, verkündete er Raven und setzte mit einem Zwinkern hinzu: »Kara wartet bestimmt schon auf dich!« Er ging zur Luke, kniete sich neben die Öffnung und streckte Raven die Hand hin.
Mittlerweile fiel Raven zu dem Verhalten des Knechts nichts mehr ein. Für Tomin schien es den Vormittag über
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