Rabenfeuer - Die Flammen der Goettin
Nach ein paar Schritten machte er kehrt, ging zum Bett zurück und sah Ona an.
»Wenn es nach mir geht, kann Raven morgen die Krankenhalle verlassen«, erklärte die Heilerin. »Und jetzt entschuldigt mich, ich habe noch zu arbeiten.«
Ona entfernte sich und Raven spürte Karas Blick in seinem Rücken. Langsam drehte er sich zu ihr um und machte sich auf ihre spöttischen Bemerkungen gefasst und ihre Vorwürfe, ihr sein lahmes Bein verschwiegen zu haben.
»Du bist groß.«
Groß? Raven traute seinen Ohren nicht. Das war das Erste, was Kara an ihm auffiel?
Sie bemerkte seine Verwirrung und erklärte schnell: »Ich mag große Männer.« Kaum hatte sie es ausgesprochen, überzog eine Röte ihr Gesicht. »Also, ich meine, was ich damit ausdrücken wollte ...« Sie räusperte sich. »Nun, Ona sagt, du bist wieder gesund. Ich hole dich dann morgen früh ab, um dich dem Tempelherrn vorzustellen. Gute Nacht.« Sie drehte sich um und verließ eilig die Krankenhalle.
Raven ließ sich auf sein Bett fallen. Kara überforderte ihn. War sie mit Blindheit geschlagen? Seine linke Körperhälfte war vollkommen nutzlos und sie verlor kein Wort darüber. Möglicherweise war Kara eine Außenseiterin im Tempel und sah in ihm eine Art Leidensgenossen. Er schüttelte den Kopf. Vielleicht kam die junge Frau heute Nacht zur Besinnung und entschied, ihn fortan zu meiden. Das würde er ihr nicht verübeln. Auf jeden Fall sollte er sich morgen früh darauf gefasst machen, den Weg zu Theon alleine finden zu müssen.
5
»Raven, aufwachen!«
Verschlafen öffnete Raven die Augen und war schlagartig hellwach. Kara stand vor ihm.
»Wir gehen jetzt zusammen zum Frühstücken in die Speisehalle und dann bringe ich dich zu Theon.«
Sie strahlte ihn an und Raven gab es auf, sich bei ihr noch über irgendetwas zu wundern.
Auf dem Weg zur Speisehalle, dem zweiten länglichen Gebäude, erkannte Raven, dass seine Vermutung, Kara wäre ebenfalls eine Außenseiterin, völlig falsch war. Jeder, dem sie auf dem kurzen Fußmarsch begegneten, grüßte die junge Frau nicht nur höflich, sondern ausgesprochen ehrfurchtsvoll.
Nachdem sie die wenigen Treppenstufen zur Speisehalle hinaufgestiegen waren, blieb Kara in der Eingangstür stehen. Ihr Blick glitt durch den großen Saal. Raven wartete neben ihr und sah sich ebenfalls um. An drei langen Tischreihen saßen die Menschen, die im Tempelbezirk lebten, nahmen ihr Frühstück ein und unterhielten sich dabei angeregt miteinander.
Er betrachtete die Anwesenden näher und erstaunt hob er seine Augenbrauen. Es schien in dieser Halle keine Sitzordnung zu geben. Die Mitglieder der Tempelwache saßen verstreut an den Tischen, ebenso die Männer und Frauen in der dunkelroten Kleidung der Heiler und den weißen Gewändern der Tempeldienerinnen und Tempeldiener. Dazwischen entdeckte er die Mägde und Knechte des Klosters, die keine besondere Kleiderfarbe trugen, sowie Besucher, die er anhand ihrer Reisekleidung erkannte. Raven runzelte die Stirn. Von seiner Mutter hatte er gehört, dass es in der Halle des Fürstenhofes eine strenge Platzordnung gab, die sich an Ansehen und Stellung der jeweiligen Person orientierte. Hier schien das nicht der Fall zu sein, er konnte nicht einmal einen besonderen Tisch ausmachen, an dem der Tempelherr saß.
»Komm, Raven, die anderen sitzen dort drüben.« Kara zupfte ihn am Hemd und wies ans andere Ende der Halle.
Er folgte ihr zwischen den Tischreihen hindurch und war sich der neugierigen Blicke, die ihm zugeworfen wurden, nur zu bewusst. Bald würden die Ersten anfangen zu lachen und ihm Beleidigungen hinterher zu rufen, aber das war er gewohnt. Es störte ihn nur, dass Kara es ebenfalls hören würde.
Vor dem Kopfende eines Tisches, an dem bereits drei Leute saßen, hielt Kara an. »Raven, ich möchte dir meine Freunde vorstellen: Xalva ist eine der Heilerinnen, Beron gehört zu den Tempelwächtern und Tomin arbeitet als Knecht.«
Raven nickte der blonden Frau, dem schwarzhaarigen Krieger und dem Mann mit den braunen Locken zu. Er wusste, die drei legten keinen besonderen Wert auf seine Gegenwart und begrüßten ihn nur Kara zuliebe freundlich.
»Das ist Raven«, setzte Kara die Vorstellung fort. »Er sucht Arbeit und will sich bei Theon als Knecht bewerben. Raven kann nicht sprechen und seinen Arm und sein Bein nach einem Unfall nicht mehr richtig bewegen.«
Trotz Karas Worten sah Tomin ihn begeistert an. »Du willst hier arbeiten?«, rief er erfreut. »Dich schickt die
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