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Rabenherz & Elsternseele

Rabenherz & Elsternseele

Titel: Rabenherz & Elsternseele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Sophie Marcus
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passiert war? Wussten Mama und Papa schon Bescheid? Es war Samstag, sie waren am Morgen nach Braunschweig gefahren, um Besorgungen zu machen, und hatten abends noch einen Kinobesuch geplant. Ich musste sie unbedingt anrufen.   
    Anrufen. Angestrengt stellte ich mir vor, was man dazu brauchte: Hände, Finger, Lippen und mehr Sprachfähigkeit als eine Elster. Endlich klappte es mit der Verwandlung, doch es war viel mühsamer als gewöhnlich. Auf allen vieren kroch ich zur Bodentreppe, wo meine Klamotten lagen, und schnitt dabei mit meinen steifen Lippen Grimassen.
    Erst als ich meine Armbänder überstreifte und festzog, durchlief mich ein Schauder, und alles renkte sich ein. Sogar mein Denkvermögen kehrte zurück. Ich rannte in Omas Zimmer, fand nichts, die Treppe ins Erdgeschoss hinunter, in die Küche, fand nichts, dann ins Wohnzimmer: Dort lag ein Zettel.
Liebe Pia,
fühle mich nicht gut. Ich habe einen Rettungswagen gerufen, falls es das Herz ist. Hab keine Angst. Du weißt ja, wie lieb ich dich habe.
Oma
    Mit zitternden Knien setzte ich mich in Omas Sessel und hielt den Zettel so fest, als hinge ihr Leben davon ab. Schon Anfang des Sommers hatte ich einmal geglaubt, ich hätte Oma verloren, was furchtbar schlimm gewesen war. Es durfte nicht wahr sein, dass es nun vielleicht wirklich geschehen würde.
    Vormittags, ehe ich losgeflogen war, hatte sie noch ganz gesund gewirkt, höchstens etwas müde. Aber schließlich hatten wir am Vorabend auch noch lange zusammengesessen. Wir hatten über Leanders Notizbuch gesprochen, die alten Geschichten von den Vogelmenschen und über Omas Begegnung mit einer merkwürdigen Frau, die ebenfalls etwas darüber zu wissen schien. Sie hieß Iris Winterstein und sollte mit Beginn der Herbstferien im Historicum angestellt werden, dem Freilichtmuseum, das Oma früher geleitet hatte.
    Als Museumsführerin würde Frau Winterstein arbeiten. Doch bei einer Probeführung war sie vor allem damit beschäftigt gewesen, Oma verschwörerische Blicke zuzuwerfen. Am Ende hatte sie es so eingerichtet, dass die beiden allein zurückblieben. »Ich muss mit Ihnen reden«, hatte sie geraunt. »Über Vögel.« Oma hatte beim Erzählen so übertrieben nachgeahmt, wie die Frau dabei vielsagend mit den Augenbrauen gezuckt hatte, dass ich noch bei der Erinnerung daran grinsen musste.
    »Jetzt?«, hatte Oma sie gefragt.
    »Nein. Wir müssen uns in Ruhe treffen. Es droht Gefahr. Verstehen Sie? Große Gefahr!«
    Daraufhin hatte Oma sich darauf eingelassen, sich mit ihr für den letzten Tag vor den Herbstferien zu verabreden: ein geheimes Treffen in einer der alten Mühlen des Museums.
    Große Gefahr. Wir hatten das nicht sehr ernst genommen, doch nun fühlte ich mich ganz anders. Meine Haut kribbelte, als würden sich meine Federn aufstellen, so wie sie es immer taten, wenn ich als Elster eine Katze entdeckte.
    Hatte Omas plötzliche Krankheit vielleicht mit der geheimnisvollen Bedrohung zu tun?
    Falls sie es noch geschafft hatte, Mama anzurufen, hatte die mir bestimmt schon eine SMS geschickt.
    Dieser Gedanke trieb mich in die Küche, wo mein Handy neben einer Schachtel Ingwerkekse auf dem mit drei Tellern gedeckten Tisch lag. Im Ofen wartete ein Blech mit vorbereiteter, aber ungebackener Pizza. Es roch nach der Tomatensoße, die Oma dafür gekocht hatte.
    Auf dem Herd stand ein leerer Milchtopf, und auf dem Boden vor dem Kühlschrank lag ein aufgeplatztes Tetrapack Milch. Die Milch hatte sich über die halbe Küche verteilt. Erst jetzt sah ich, dass aus der Milchlache Fußspuren heraus und mir entgegen zur Tür führten. Sofort fühlte ich mich noch ein Stück elender.
    Mein Handy zeigte keine Nachrichten oder entgangenen Anrufe an. Unter Mamas Nummer sprang sofort die Mailbox an, bei Papa ebenfalls. Offenbar hatten die beiden an ihrem freien Tag keine Lust auf Anrufe.
    Während ich in einen Keks biss und auf die Milchkatastrophe starrte, überlegte ich, ob ich das Krankenhaus anrufen und um eine Auskunft bitten sollte. Die Vorstellung machte mir zu meiner Schande eine Riesenangst. Ich wusste nicht, wie man so etwas macht. Und ich war mir nicht sicher, ob ich es aushalten würde, eine schlechte Nachricht zu hören.
    Trotzdem war ich in Gedanken schon auf der Suche nach Omas Telefonbuch, damit ich die Nummer vom Krankenhaus herausfinden könnte, da klingelte es an der Tür. Mein Herz machte einen hoffnungsfrohen Satz. Bestimmt war alles nur blinder Alarm gewesen, und Oma kam schon wieder nach Hause.
    Aus

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