Rabenherz & Elsternseele
Vollmond schien auf die Holzkäfige des Falkenhofes, in denen Fredo und die anderen Vögel schliefen. Was würde wohl aus ihnen werden? Würde von Meutinger bleiben und sie weiter versorgen?
Von dem Suchtrupp war nichts zu sehen. Ich schlenderte zum Burgtor, das bis auf den Fußgängerdurchgang verschlossen war. Draußen stand unser Auto auf dem Weg. Weit weg im Wald hörte ich rufende Stimmen und bemerkte einen kleinen, schwankenden Lichtschein, wie von einer Taschenlampe. Da ich mich immer noch so erschöpft fühlte, als hätte ich soeben die Burg hinter mir innerhalb von zwei Tagen eigenhändig erbaut, zögerte ich. So einen kleinen Habicht, der wahrscheinlich längst in einer dichten Baumkrone tief und fest schlief, im großen Wald zu suchen, kam mir auf einmal unsinnig vor. Andererseits lief ja auch meine eigene Mutter da im Dunkeln herum, und ich hatte wirklich Sehnsucht nach ihr. Also gab ich mir einen Ruck.
Ich kam nicht weiter als bis zum Rand der Straße. Gerade blickte ich zu Boden, um mir nicht den Fuß zu vertreten, wenn ich im schwachen Licht die Böschung hinunterkraxelte, da sah ich aus dem Augenwinkel einen schwarz-weißen, pfeifenden Blitz auf mich zuschießen. Ich muss zugeben, dass ich mächtig zusammenzuckte, als er auf meiner Schulter landete. Er keckerte gellend, offensichtlich hellauf begeistert über seinen gelungenen Scherz.
Ich seufzte und musste dann auch lachen. Vorsichtig strich ich ihm mit einem Finger über den Bauch, so wie Strix es bei mir gemacht hatte. Er ließ es sich gefallen und schüttelte genüsslich sein Gefieder zurecht.
»Hallo, Kumpel. Danke für deine Hilfe. Du weißt wohl nicht auch noch zufällig, wo dieser Habicht ist, oder? Ich meine den gestreiften Hakenschnabel mit den hübschen Riemen an den Füßen. Wir müssen ihn wiederfinden.«
Hallo-komm-rein legte den Kopf schief und musterte mich mit glänzenden Augen. »Hallo. Komm rein«, sagte er.
Ich musste schmunzeln. »Ja. Nun sag mal Habicht . Und dann finde ihn. Habicht .«
Die Elster auf meiner Schulter wippte mit dem Schwanz und pfiff fröhlich, dann flog sie davon.
Seufzend setzte ich meinen Weg in den Wald fort. Unwillkürlich lenkte ich meine Schritte zuerst zu der Stelle, wo ich mein Fahrrad abgestellt hatte. Zum Glück stand es noch dort. Ich gab ihm einen zärtlichen Klaps und schrak zusammen. Ein lautes Pfeifen warnte mich vor einer neuen Attacke meines Elsternfreunds. Diesmal beschränkte er sich nicht darauf zu pfeifen. Laut und deutlich rief er zwischendurch: »Habicht, Habicht!« Trotzdem begriff ich erst, was geschah, als nicht nur er an meinem Kopf vorbeigezischt war, sondern der wutentbrannte Habicht, der ihm dicht auf den Stoßfedern folgte, frontal in mich hineinrauschte.
Beinah warf der Zusammenprall mich um, ich schrie auf. Das Streifenhuhn stieß ein empörtes Habichtsgekreisch aus, schlug die Klauen in mich, als wäre ich ein Kaninchen, und hackte nach mir. Fredo hatte mich mit so etwas noch schockieren können, aber nach allem, was ich seither erlebt hatte, ließ ich mich nicht mehr so leicht einschüchtern.
Entschlossen schnappte ich mit der einen Hand die Beine und mit der anderen den Kopf der Habichtsdame und ließ nicht locker, obwohl sie mir ein paar schmerzhafte Schrammen verpasste. Ich hockte mich mit ihr hin und klemmte sie mir so zwischen die Beine, dass ich ihr das Geschüh abnehmen konnte. Hallo-komm-rein keckerte, als hätte er einen hysterischen Lachanfall. Völlig außer sich wippte er mit dem ganzen Körper.
»Du bist echt ein Witzbold«, sagte ich, was er mit einem »Habicht, Habicht« quittierte.
Ich stand auf, sobald ich merkte, dass der Habicht sich veränderte. Es dauerte nur einen Augenblick, dann war aus dem wütenden Greifvogel eine Frau geworden, die so wunderschön war, dass sie tatsächlich Joris Mutter sein musste.
Aus dem Schatten der steilen Burgmauern kam Strix gerannt. »Pia? Alles in Ordnung? Warum hast du geschrien?«
Er trug die alten Sachen in der Hand, die ich an der Burgmauer zurückgelassen hatte, und sah aus, als hätte er geglaubt, mich schon wieder vor einem Verbrecher retten zu müssen.
»Alles in Ordnung. Ich habe …« Ich zeigte auf Joris Mutter, die sich gerade aufrichtete. Strix warf einen kurzen Blick auf sie, wandte sich dann verlegen ab und hielt mir meine Sachen hin.
Ich reichte sie weiter an Frau Merveux, die sie mir ohne einen Dank abnahm und sich wortlos das T-Shirt überzog. Hallo-komm-rein saß da und beobachtete sie
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