Rabenherz & Elsternseele
werden.
Mama schrieb mir eine Liste von Dingen, die ich am Sonntagmorgen für Oma zusammenpacken sollte. Mit der Liste in der Hand stand ich wenig später in meinem Zimmer, blickte hinaus auf die Kastanie und fragte mich, wo Leander steckte. Oft war er plötzlich an meiner Seite, wenn ich herumflog und die Gegend erkundete, aber seit einigen Tagen hatte ich ihn nicht gesehen. Musste ich mir um ihn etwa auch Sorgen machen?
Kurzentschlossen schlüpfte ich aus meinen Sachen, legte meine Armbänder auf den Tisch und öffnete das Fenster. Nicht einmal eine Minute dauerte es, bis ich als Elster auf meiner Fensterbank saß. Es ging so leicht, als hätte ich nur ein anderes T-Shirt übergestreift. Glücklich schüttelte ich mein Gefieder und flog die kurze Strecke zur herbstkahlen Kastanie hinüber. Dort saß Leander manchmal in seinem Nest.
Dieses Elsternnest war kein ordentliches Zuhause, sondern nur eine Art schäbiger Unterstand für kurze Aufenthalte. Irgendein Pfuscher hatte einst angefangen es zu bauen und dann halb fertig verlassen.
Leander war nicht da. Stattdessen lag etwas Hübsches im Nest, dem ich nicht widerstehen konnte. Ich griff es mit meinen Klauen und wollte gerade zurück in mein Zimmer fliegen, da sah ich auf der Regenrinne des Wohnblocks hinter unserem Garten wieder so eine große Krähe sitzen. Man hätte fast glauben können, dass sie mich beobachtete. Es juckte mich in den Flügeln, zu ihr hinzufliegen und sie ein bisschen zu ärgern. Aber für diesen Tag hatte ich genug Aufregung gehabt und war zu müde.
So brachte ich nur den Schatzfund in mein Zimmer, dachte kurz daran, wie ich mir gleich eine Dose Erdnüsse aus dem Wohnzimmerschrank holen würde, und war zurückverwandelt, bevor ich bis dreißig zählen konnte. Das überzeugte mich endgültig davon, dass die Szene am Morgen, als ich so eklig zwischen Elster und Mädchen festgesteckt hatte, eine grässliche Ausnahme gewesen war. Eigentlich funktionierte die Verwandlungstechnik, die ich mir im Laufe der Sommer- und Herbstwochen zugelegt hatte, wunderbar. Ich musste mich einfach nur daran erinnern, was ich an meinem jeweils anderen Leben mochte, dann lief alles wie geschmiert.
Rasch zog ich mir einen Schlafanzug an und betrachtete dann meinen neuen Schatz. Es war ein Ring. Silberne Totenschädel mit Augen aus roten Glitzersteinchen waren zwar eigentlich nicht mein Stil, aber in den Augen einer Elster war der Ring sehr hübsch. Wo Leander ihn wohl gefunden hatte? Viel wert war er nicht, aber sicher vermisste ihn jemand. Eine Sache, um die Elstern sich keine Gedanken machten.
Schöne Scherben
A
m Sonntag hörte ich nichts von Strix, und er ging auch nicht ans Telefon. Dafür fuhren wir nach Braunschweig, statteten Oma einen Besuch ab und brachten ihr ihre Sachen. Sie sah nicht besonders krank aus, war aber sehr müde, sodass wir nicht lange blieben.
Zu meinem Elend musste ich am Abend noch eine Hausaufgabe in Gesellschaftslehre erledigen: Der Aufbau eines Zeitungsartikels anhand eines Beispiels. Obwohl ich sonst die Zeitung nur ins Altpapier trug, las ich mich dieses Mal natürlich fest. Es wurde schrecklich spät, bevor ich endlich mein Schulzeug wieder in den Rucksack stopfen konnte.
Wie immer fuhr ich morgens spät los, hinterließ eine Bremsspur auf dem Schulhof und rannte die Treppen hoch, um in Topform zu bleiben. Meistens kam ich pünktlich.
Allerdings hatte ich nie Zeit, mich vor der ersten Stunde mit jemandem zu unterhalten. Deshalb sehnte ich die erste Pause herbei, um meiner besten Freundin Annabelle erzählen zu können, was am Wochenende los gewesen war. Sie benahm sich zwar in letzter Zeit etwas merkwürdig, doch aus alter Gewohnheit sprachen wir weiter über all unsere Neuigkeiten.
Leider verflüchtigte sich die Lust, ihr etwas zu erzählen, als wir in der Pause auf den Schulhof hinausgingen.
»Oh, guck mal, da sind Henrik und die anderen«, sagte Anna, strich sich ihre blonden Haare hinter das Ohr und warf einen abfälligen Blick auf mein Lieblings-Sweatshirt. »Mann, und du siehst wieder aus! Willst du das Ding nicht endlich mal wegwerfen?«
Auf mein Shirt war eine coole Mountainbikerin aufgedruckt. So etwas war nicht leicht zu finden. Ich würde es auf keinen Fall wegwerfen, auch wenn die Ärmel schon etwas zu kurz waren. Anna hätte wissen sollen, dass sie sich so eine blöde Bemerkung sparen konnte. Außerdem hätte sie ahnen können, dass Henrik mich nicht mehr besonders interessierte. Es war Strix, an dem mir etwas
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