Rabenherz & Elsternseele
Obstwiese hinweg starrten die Vogelscheuche und ich uns an.
Ich erwische euch alle, ihr verfluchten, eingebildeten Biester. Ich befrei die Welt von euch.
Das Ding sprach in meinem Kopf! Vor Schreck gaben mir die Knie nach.
»Lauf!«, schrie Strix und griff nach meiner Hand. Doch nun entdeckte ich etwas, das mich noch fester in Bann zog. Der schwarze Mantel war vorne auseinandergeweht, und unter dem Rübenkopf steckte nicht etwa nur ein Besenstiel, der das Monstrum aufrechthielt, sondern ein Käfig. Es war ein runder Vogelbauer, dessen dicke Gitterstäbe wie die Rippen eines Skeletts wirkten. Im Käfig hockte ein rotbrüstiger, kleiner Vogel, dessen Furcht, Trauer und Einsamkeit ich so deutlich fühlen konnte, als würde ich sein Herz mit ihm teilen. Du Armer, dachte ich. Oje, du Armer.
Seltsamerweise ließ meine Angst im selben Moment nach.
Strix packte fest meinen Arm und schüttelte mich. »Komm endlich, wach auf!«, schrie er mich an.
Die Vogelscheuche neigte ihren Rübenkopf. Damit sie uns besser sehen konnte? Ein Schauder überlief mich, und endlich konnte ich mich in Bewegung setzen. Seite an Seite mit Strix rannte ich zwischen den Obstbäumen hindurch. Wir sprangen über Grasbüschel und niedrige Sträucher, stolperten, fingen uns wieder, hetzten, zogen uns gegenseitig durch das Tor bis zur Straße, wo wir uns keuchend auf unsere Fahrräder schwangen. Erst drei Straßen weiter hielten wir an.
»Donnerwetter, jetzt habe ich endlich kapiert, was du meintest. Das war keine normale Vogelscheuche«, schnaufte Strix, die Augen weit aufgerissenen.
»Nein«, keuchte ich. »Auf keinen Fall ist das eine gewöhnliche Vogelscheuche. Aber weißt du was? Ich habe jetzt trotzdem nur noch halb so viel Angst vor dem Ding.«
Strix verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Wahrscheinlich weil ich dir mindestens die Hälfte deiner Angst abgenommen habe. Mann, habe ich mich erschrocken.«
Obwohl auch mir noch die Knie zitterten, musste ich lachen. »Ich fand dich todesmutig. Und es ist sehr großzügig von dir, dass du mir etwas Angst abgenommen hast. Aber das meinte ich nicht. Ich habe jetzt weniger Angst, weil ich weiß, wie man dieses ekelhafte Ding ausschalten kann.«
Strix schüttelte fassungslos den Kopf. »Wie zum Gänsegeier hast du das zwischen deinem Ich-kann-mich-vor-Angst-nicht-bewegen und dem Ende unserer kopflosen Flucht herausfinden können?«
Ich lächelte siegesgewiss. »Die Brust dieser Vogelscheuche ist ein Käfig, und darin sitzt ein kleiner Vogel, der schrecklich leidet. Ich bin ganz sicher, dass die unheimliche Macht der Vogelscheuche mit ihm zu tun hat. Wir müssen ihn nur befreien, dann haben wir gewonnen.«
»Du willst tatsächlich so nah an das Monster heran, dass du an seinen Rippen herumfummeln kannst? Musst du es unbedingt unschädlich machen? Vielleicht bleibt es ja auf der Wiese stehen und richtet gar keinen Schaden an. Wir könnten doch auch einfach einen großen Bogen darum machen.«
Die Möglichkeit klang ungeheuer verlockend. Hatte er recht, und das Ding besaß nicht mehr Macht als für einen Garten ausreichte? Ich hätte es gern geglaubt, aber mein Elsterninstinkt widersprach. Es handelte sich nicht um irgendeine gehässige lebende Vogelscheuche, sondern um etwas großes Böses, das Vögel – und offenbar auch Vogelmenschen – verabscheute. Außerdem saß ein unschuldiger kleiner Gimpel in seiner Brust.
»Ich werde noch mal darüber nachdenken. Aber ich fürchte, es führt kein Weg daran vorbei.«
Strix starrte mit zusammengezogenen Brauen zu Boden. Sein Hirn arbeitete sichtlich. »Okay. Dann brauchen wir einen guten Plan. Und möglicherweise sollten wir die anderen darum bitten, uns zu helfen.«
Ich seufzte. »Muss das sein? Sie haben mir nicht geglaubt, als ich von dem Garten erzählt habe. Wahrscheinlich machen sie sich wieder nur lustig.«
»Aber dieses Mal bin ich dein Zeuge.«
»Hast du mir etwa geglaubt, als ich über die Sache gesprochen habe?«
Er sah mich verwundert an. »Klar.«
»Du hast nicht so ausgesehen.«
»Echt? Na ja … Du warst zu der Zeit gerade sauer auf mich, und deshalb war ich sauer auf dich, und da habe ich keine Lust gehabt … Ich war einfach blöd, tut mir leid.«
»Na dann … Ich war auch blöd, tut mir auch leid. Ein Glück, dass wir das hinter uns haben.«
Sein Lächeln brachte mein abgehetztes Herz dazu, schon wieder einen kleinen Extrahopser zu machen.
Mama hatte Urlaub und unterhielt sich in der Küche mit der Langschläferin
Weitere Kostenlose Bücher