Rabenherz & Elsternseele
erstarrte. Der Himmel war schwarz von Vögeln. Sie flogen in Kreisen, die sich zu einer Art Wirbel vereinten. Oder zu einem Strudel, als wäre der Garten die Unterwelt, in die sie jeden Moment herabgesogen werden würden. Gänse, Amseln, Bussarde, Schwäne, Reiher und unzählige Kleinere, die aus der Entfernung nicht zu unterscheiden waren. Nur ein einziger schwarzer Vogel widersetzte sich dem Kreisen und scherte aus. Ein Rabe?
»Mach den Käfig auf, Pia«, drängelte Jori.
Ich ließ das Beil fallen und streckte die Hand aus, obwohl ich eine Gänsehaut hatte. Nie und nimmer konnte diese Sache so einfach sein. Etwas Entsetzliches würde geschehen, wenn ich die Käfigtür berührte. Oder sie würde sich gar nicht öffnen lassen.
Der Stab fiel vom Arm der Scheuche ab, und ihr Mantel wurde vom Wind in die nächsten Sträucher getragen. Leander setzte sich auf meine Schulter. »Hallokommrein«, sagte er aufmunternd.
Ich gab mir einen Ruck. Die kleine Tür besaß einen Riegel, der sich leicht bewegen ließ, und öffnete sich beinah von selbst. Ich ließ sie weit offen stehen und trat einen Schritt zurück. »Na, komm heraus, Kleiner«, sagte ich.
Es waren meine letzten Worte, bevor ich unfreiwillig zur Elster wurde. Auch Jori und Bubo verwandelten sich.
Der Gimpel bemerkte die offene Tür nicht, sondern blieb sitzen.
Strix sah uns Vögel besorgt an und trat zum Käfig. »Oh Mannomann«, murmelte er, ehe er eine Hand hineinsteckte, um den Gimpel herauszuholen. Sie wurde im Inneren des Käfigs unsichtbar. Strix schrie auf und zog sie hastig zurück. Der Gimpel bemerkte noch immer nichts. Mit einem ungläubigen Blick auf seine Hand schüttelte Strix den Kopf. »Oh Mannomann.«
Ein Seufzen, dann versuchte er es erneut. Mit dem gleichen Ergebnis. Wieder zog er die Hand heraus.
Das Vogelstimmengetöse war inzwischen ohrenbetäubend. Ratlos wandte Strix sich mir zu, als müsste ich die Lösung wissen. Die Oma-Elster allerdings wusste viel besser Bescheid als ich. Sie schwang sich auf den Käfig und spähte von oben durch die Tür hinein. Dann begann sie, das Lied eines Gimpels nachzuahmen wie ein Profi: All das Getschilpe, Gezirpe, zarte Pfeifen und Trillern.
Der Gimpel wurde hellhörig, hob den Kopf und hopste zur Tür. Die Elster legte noch ein wenig mehr Herz ins Lied. Der rotbäuchige Vogel stieß sich ab und kam taumelnd aus seinem Gefängnis.
Leander und ich taten unser Bestes und begrüßten ihn mit einem jubelnden Konzert, das auch ein bisschen nach Gimpel klang. Der Kleine hob sich in die Luft empor, stieg in den Himmel und verschwand außer Sicht, ohne sich noch einmal nach uns umzublicken. War das alles gewesen? Hatten wir gesiegt?
Aus dem Lärm waren nun keine Vogelstimmen mehr herauszuhören, er war zu einem dröhnenden und rauschenden Klangchaos angewachsen. Strix hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Ohren zu. Leander und die Oma-Elster saßen mit merkwürdig abgespreizten Flügeln da, als wollten sie Bubo, Jori und mich beschützen.
Da tauchte Piepko auf, zum Glück ohne Gewehr. Wutentbrannt stapfte er auf uns zu, wurde aber von dem Lärm gebremst, als er durch die Terrassentür nach draußen trat. Auch er hielt sich die Ohren zu.
Dann kamen die Vögel in den Garten herunter. Der Strudeltrichter, in dem sie flogen, bekam eine Spitze, die genau bei dem leeren Vogelkäfig endete. Ich machte einen Elsternhopser zur Seite, um Leanders Flügel aus dem Blickfeld zu bekommen und besser sehen zu können, was vor sich ging.
Kaum war ich aus dem Schatten seiner Flügel heraus, packte mich derselbe Sog, der auch die anderen Vögel im Griff haben musste. Weil ich aber näher am Käfig war als sie, war ich auch schneller dort. So musste sich eine Fliege fühlen, wenn sie vom Staubsauger gefressen wurde.
Kurz war mir schwindlig, und ich wusste nicht mehr, wo oben oder unten war, was mir als Elster sonst nicht passierte. Dann machte es Schlubb , der Vogellärm verstummte, und ich saß im Käfig – Tür zu.
Die anderen draußen sah ich wie durch Nebel, nur Fetzen von Strix’ Worten drangen zu mir durch, als wäre ich in Watte gehüllt. Strix fummelte hektisch an der Käfigtür und schien auf mich einzureden. Warum war er so aufgeregt? Es war doch alles in Ordnung. Ich fühlte mich nicht schlecht hier drin. Hatte zumindest keine Angst mehr. Hunger auch nicht. Oder Durst. Eigentlich auch sonst nichts.
Mir war alles egal. Das fühlte sich traurig an. Aber es war nicht so anstrengend wie das Durcheinander
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