Rabenherz & Elsternseele
verschnürt war – dank der Unterstützung durch Strix fester als vorher und zudem entwaffnet.
Innerhalb kürzester Zeit nahmen wir alle Menschengestalt an und schlüpften in unsere Hemden und Hosen, um uns um Corax und Kotanwis Käfig zu kümmern.
Bubo und Jori sah man ihre Erschöpfung an. Leander keckerte laut und landete auf meiner linken Schulter, die Oma-Elster schweigend auf meiner rechten. Ich hätte umfallen können vor Müdigkeit. Corax schien sich auch schon der Wirkung des Käfigs ergeben zu haben; er schlief. Wir mussten ihn unbedingt schnell da herausholen!
»Womit können wir ihn herauslocken?«, fragte ich.
Strix sah mich von der Seite an. »Na, mit dir natürlich«, erwiderte er.
»Dann geht alles von vorne los«, stöhnte Jori.
»Das ist egal. Er muss da raus«, sagte ich.
Bevor wir den ersten Schritt unternehmen konnten, begann die Vogelscheuche, sich um sich selbst zu drehen. Immer schneller wurde sie, bis wir nur noch eine Art kleinen, schwarzen Hurrikan sahen.
Dann verschwand sie.
Ich schrie auf und stürzte vor, doch wo sie gestanden hatte, war nichts zurückgeblieben. Kotanwi war fort.
Und mit ihm Corax.
Fassungslos sahen wir uns an.
»Das hättest du sein können, Pia«, sagte Bubo.
Mir schossen die Tränen in die Augen. Strix legte den Arm um meine Schultern und zog mich an sich.
»Wenn wir Corax je wiedersehen, schuldest du ihm was«, sagte Jori.
Als wüsste ich das nicht selbst.
Hinter uns hörten wir ein Schluchzen. Müde begaben wir uns zu Piepko, der gefesselt auf der Erde lag.
»Ich tue keinem Vogel mehr was. Ich schwöre es. Ich werde sie im Winter füttern, ehrlich. Ich … Gnade! Ich baue Vogelhäuschen. Meinetwegen können sie all mein Obst haben. Bitte …«
»Ist ja schon gut«, unterbrach Bubo sein Gejammer. »Wir lassen Sie dieses Mal davonkommen. Aber passen Sie bloß auf, dass die Vögel nicht noch einmal das Gefühl bekommen, sie müssten ihre Götter zu Hilfe rufen. Wir gehen dann mal. Sie schaffen es bestimmt bald, sich selbst loszumachen. Darin scheinen Sie ja gut zu sein.«
Am nächsten Morgen wachte ich früh auf und sah als Erstes aus dem Fenster.
Leander und die Oma-Elster saßen in der Kastanie. Ich wusste, was ich zu tun hatte, und gesellte mich zu ihnen.
Es war nicht schwer, sie dazu zu bringen, dass sie mir folgten.
Wir flogen weit, bis nach Braunschweig ins Krankenhaus zum Fenster des Zimmers, in dem Oma lag und sich nicht regte. Eine gnädige Krankenschwester hatte die Fenster der meisten Zimmer im Stockwerk zum Lüften geöffnet, ich sah es von Weitem.
Die schweigsame Oma-Elster schimmerte immer heller weiß-blau, je näher wir kamen. Bald wurde sie durchscheinend, und ein paar Meter vor dem Fenster löste sie sich in silbernen Dunst auf.
Leander blieb auf der Fensterbank hocken, ich flog ins Zimmer, verwandelte mich und zog mir schnell Omas Bademantel über. Weder sie noch ihre Zimmergenossin rührten sich. Erst als ich an Omas Bett trat, wie immer eingeschüchtert von dem Medizingeruch und von all den Geräten und Schläuchen um sie herum, schlug sie die Augen auf.
»Pia? Hallo Schatz. Ist alles in Ordnung? Stell dir vor, ich hatte den allerverrücktesten Traum«, murmelte sie.
Ich lächelte und weinte gleichzeitig. »Na, dann erzähl mal«, sagte ich.
Leanders Geheimnis
O
ma erzählte mir von dem Kampf mit der Vogelscheuche, als hätte sie ihn geträumt. Und vielleicht war es ja tatsächlich eine Art Träumen, wenn die Seelenelster sich selbständig machte.
Ich hörte ganz still zu, weil ich sie nicht damit erschrecken wollte, dass ihr Traum Wirklichkeit gewesen war.
»Im Traum war es mir egal, dass dieser fremde Rabenjunge an deiner Stelle in Kotanwis Käfig gefangen sitzt«, sagte sie am Ende. »Dabei wäre das für ihn ein furchtbares Schicksal. Man müsste ihn unbedingt finden und befreien.«
Da sprach sie mir aus dem Herzen. »Wie könnte man ihn wiederfinden? Und wie würde man es anstellen, ihn aus dem Käfig zu holen, ohne dass ein anderer Vogel an seiner Stelle hineinmüsste? Außerdem glaube ich, dass diese Kotanwi-Vogelscheuche absichtlich still gehalten hat. Wenn sie sich wehren würde, wäre es bestimmt viel schwieriger, einen Vogel zu befreien.«
Bis dahin hatte Oma schläfrig geklungen, nun richtete sie sich ein wenig auf, zog ihre Brauen hoch und sah mich aufmerksam an.
»Pia?«, fragte sie auf diese Art, die bedeutete, dass sie mich durchschaut hatte und auf die Wahrheit wartete.
Also erzählte ich ihr
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