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Rabenherz & Elsternseele

Rabenherz & Elsternseele

Titel: Rabenherz & Elsternseele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Sophie Marcus
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und über Joris Rückkehr zu ihrer Mutter, die nun doch nicht nach Argentinien auswandern wollte.
    Wir vergaßen glatt, aus dem Fenster zu sehen und bemerkten Frau Winterstein erst, als sie in der Tür stand. Sie war nicht allein gekommen, sondern in Begleitung der alten Dame, die ich am Ferienanfang vor Omas Haus beobachtet hatte. Diese alte Dame wiederum trug einen kleinen Holzkäfig in der Hand, in dem ein Vogel saß.
    Bei dem Anblick fing mein Herz an zu rasen. Ich kannte den kleinen rotbäuchigen Kerl, und meine Alarmglocken läuteten wie verrückt. Hatten wir uns in eine Falle locken lassen?
    Frau Winterstein benahm sich nicht so. Ihr standen hinter ihren dicken Brillengläsern die Tränen in den Augen, während sie jedem von uns wortlos die Hand schüttelte. Misstrauisch wich ich zum offenen Fenster zurück, um bei Gefahr schnell flüchten zu können.
    »Wir haben euch zu danken«, sagte sie und zeigte auf den Gimpel. »Das ist Tadeus, mein Mann, von dem ich glaubte, dass er nicht mehr lebt. Er ist zurückgekehrt und hat mir erzählt, dass er von Kindern aus einer langen Gefangenschaft befreit worden ist. Ein Uhu, ein Habicht, eine Elster und ein Menschenjunge. Das könnt nur ihr vier sein, nicht wahr?«
    »Warum haben Sie ihn eingesperrt?«, fragte Bubo mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen.
    Die alte Dame stieß energisch ihren Gehstock auf die Holzdielen. »Ich lasse meinen Sohn nicht mehr aus den Augen, bis wir ein Mittel gefunden haben, ihn zu heilen. Wir werden dem Fluch auch ohne eure Hilfe ein für alle Mal ein Ende machen!«
    Frau Winterstein wurde rot. »Leider kann Tadeus seine menschliche Gestalt nicht lange behalten. Er verwandelt sich immer wieder zurück. Wir haben Angst, dass er uns wegfliegt.«
    Schäckäck, Schneckendreck , dachte ich. Darum wollten die beiden also die Verwandlung abschaffen.
    Für den Gimpel nannte man das wohl vom Regen in die Traufe kommen. Wie zur Bestätigung zirpte der Kleine trübsinnig. »Hat er Ihnen auch etwas darüber erzählt, wo er gefangen war und warum? Oder darüber, wie wir ihn befreit haben?«, fragte ich.
    Sie schüttelte verlegen den Kopf. »So viel Zeit hatte er leider nicht. Er erwähnte eine Vogelscheuche, einen Käfig und ein schreckliches Durcheinander von Vögeln. Das ergab alles gar keinen Sinn. Ich fürchte, er ist ein wenig verwirrt.«
    Der Holzkäfig fing an zu zittern. Hastig öffnete Frau Winterstein ihn und ließ den Gimpel heraus. Im Handumdrehen verwandelte er sich in einen kleinen Mann mit grau gesträhntem Haar, der nicht zu bemerken schien, dass er nackt war. Aufgeregt redete er sofort los, was dazu führte, dass er zwischen seinen undeutlich ausgesprochenen Worten immer wieder pfiff. »… Herz Kotanwis. Braucht immer ein Herz. Was macht er jetzt? Ich wollte nicht aus dem Käfig. Ich bin müde. Ihr seid die Kinder, die …«
    Jori hob die Hand, um ihn zu beruhigen. »Unser Freund ist für Sie in den Käfig gegangen. Wissen Sie, wie wir die Vogelscheuche wiederfinden können?«
    Statt zu antworten, pfiff er eine Melodie und begann sich zurückzuverwandeln. Es war zum Verzweifeln.
    »Bitte, denken Sie doch nach«, platzte es aus mir heraus.
    Er sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Oh, eine Elster. Na, du solltest es doch herausfinden können, du schwarz-weißer Eierdieb. Tatanwi weiß immer, wo sein Bruder ist.«
    Ein Zwitschern am Ende, und dann hopste der Kleine in der Mühle herum, bis Frau Winterstein ihn mit viel gutem Zureden wieder einfing und zurück in den Käfig sperrte.
    Ich seufzte. »Rufen Sie uns bitte an, wenn er Ihnen mehr erzählt.«

    Frau Winterstein rief bis zum letzten Ferientag nicht an. Jori war inzwischen abgereist, Strix auf einem Familienausflug, Bubo hatte wegen irgendeiner Kleinigkeit Hausarrest, und Oma war zur Erholung in einer Rehaklinik. Ich war einsam, und mir war elend zumute, weil wir keinen Hinweis darauf gefunden hatten, wie wir der Vogelscheuche und mit ihr Corax auf die Spur kommen konnten. Das wirre Gefasel von Tadeus Winterstein war keine Hilfe gewesen.
    Zu allem Überfluss hatte ich Leander seit Tagen nicht gesehen.
    Als ich schon am offenen Fenster stand, um auf die Suche nach ihm zu fliegen, klingelte das Telefon. Doch weil ich gerade in diesem Moment glaubte, am Himmel in der Ferne Leander entdeckt zu haben, beachtete ich es nicht.
    Es war jedoch nicht Leander, sondern eine fremde Elster, die zu ihrem Glück nur unser Revier durchquerte.
    Schäckäckäck, etwas zügiger, bitte sehr!

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