Rabenherz & Elsternseele
müssen. Nun hockte ich mich vorsichtig auf die äußersten Zweige des Horstrandes, um nachdenken zu können.
Was hatte Tadeus Winterstein gesagt? Tatanwi weiß immer, wo sein Bruder ist.
Kotanwi hat meinen Freund entführt, den Raben Corax. Weißt du, wo er jetzt ist?
Ja. Aber das musst du mich nicht fragen. Von hier oben siehst du immer, wo Kotanwi ist, wenn du aufmerksam suchst.
Ach ja? Ich sah nur Bäume, Bäume, Bäume – und Berge. Versteckte sich die verflixte Vogelscheuche etwa in den Tannen? Ich trippelte und drehte mich einmal um mich selbst. Auf einmal spürte ich, wie feine Wellen von Bosheit mich aus einer bestimmten Richtung trafen.
Und dann konnte ich ihn sehen. Kotanwi in seiner Vogelscheuchengestalt: seine Brust ein Käfig, sein Herz ein Rabe.
In Wahrheit ist er neidisch. Er würde auch gern fliegen können.
Die Vogelscheuche stand auf einem Acker in der Nähe eines Bauernhofs. Es würde leicht für mich sein, sie zu finden. Ich konnte fühlen, wie weit der Weg dorthin war.
Aber wie können wir Corax befreien, ohne dass ein anderer Vogel für ihn in den Käfig muss?
Gar nicht. Ein Vogel muss hinein.
Schneckendreck. Gab es keine bessere Lösung?
Der Gigantofalke sah mich an und seine Augen funkelten. Lachte er etwa über mich?
Das habe ich nicht gesagt, kleine Eierdiebin. Ich sage nur, dass Kotanwi immer einen Vogel gefangen hält. Er glaubt, das würde ihn vor mir schützen. Und nun macht euch wieder auf den Weg. In eurer Welt vergeht die Zeit schneller als hier.
Er hatte es kaum ausgesprochen, da sauste Leander schon mit lautem Keckern los.
Auf Wiedersehen, Herr …
Ganz gewiss, entgegnete er.
Den ganzen Heimweg grübelte ich darüber, wie ich Corax aus dem Käfig befreien konnte, ohne dass ich oder ein anderer Vogel für ihn hineinmusste. Das Beste wäre gewesen, den Käfig zu zerstören, aber etwas sagte mir, dass das nicht so leicht möglich war. Mein armes kleines Elsternhirn rauchte bald – auch, weil ich angestrengt überlegte, wen ich um Hilfe bitten könnte. Denn allein kam mir die Sache ziemlich aussichtslos vor.
Ich landete in unserer Kastanie und sah kurz nach, ob Leander in der Nähe war, denn auf dem Heimweg war er nicht mehr bei mir gewesen. Statt ihm entdeckte ich Papa, der an unserer Hecke herumschnippelte. Ich hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass er ein paar Tage vorher etwas von Urlaub erwähnt hatte.
Nach einem prüfenden Blick in seine Richtung flog ich zu meinem Fenster, schlüpfte ins Haus und verwandelte mich.
Papa strahlte mich an, als ich zu ihm hinauskam. Wahrscheinlich hoffte er, dass ich ihm einen Grund liefern würde, mit der Gartenarbeit aufzuhören.
»Na, gut geschlafen? Geht doch nichts über einen gemütlichen freien Tag, oder? Übrigens hatte ich heute schon ein ganz besonderes Erlebnis. Du wirst es wahrscheinlich nicht glauben, wenn ich dir davon erzähle. Hast du schon gefrühstückt?«
Ich nickte lächelnd und freute mich, dass wenigstens einer mal gut gelaunt zu sein schien. »Ja. Aber ich leiste dir gern Gesellschaft, wenn du einen Kaffee trinken möchtest.«
Er ließ die Heckenschere zu Boden fallen und streifte sich seine Gartenhandschuhe ab. »Das ist ein Wort.«
Der Käfig
S
o etwas habe ich noch nie gesehen«, erzählte Papa und schlürfte einen Schluck von seinem Milchkaffee. »Ich sitze gerade zum Verschnaufen am Gartentisch, da kommt diese Elster angeflogen, lässt sich auf der Stuhllehne gegenüber nieder und wirft ein kleines Ding auf den Tisch, das sie im Schnabel hatte. Und dann fliegt sie nicht etwa weg, sondern starrt mich an und schnarrt und pfeift, trällert und krächzt mir etwas vor, dass mir die Kinnlade runterfällt. Dann macht der Vogel eine Pause und guckt mich an, als würde er darauf warten, dass ich antworte. ›Tut mir leid, ich habe nichts verstanden‹, sagte ich also. Das schien ihn sauer zu machen, denn er pickte wütend nach dem Stuhl, plusterte sich auf, flatterte herum, drehte sich um sich selbst. Und am Ende, du wirst es nicht glauben, sah er mich wieder an und fing an zu sprechen. Ganz deutlich sagte er: ›Hallo, komm rein.‹« Ich musste lachen. »Was die Elster wohl wieder ärgerte. Jedenfalls ließ sie dieses böse Keckern hören, das die Viecher immer von sich geben, hopste auf den Tisch, schnappte mit dem Schnabel das Ding, das sie mitgebracht hatte, und schleuderte es förmlich nach mir, bevor sie aufflog und verschwand.«
Vor Spannung hatte ich während der Geschichte die Luft
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