Rabenmond - Der magische Bund
und ich wollte ihr helfen, aber ich konnte nicht. Ich konnte nicht.« Er schluckte. »Er hat sie im Keller begraben. Er hat gesagt, wenn ich ihm nicht helfe, begräbt er mich gleich mit ihr. Wir haben die ganze Nacht geschaufelt.
Als alle dachten, dass meine Mutter davongelaufen ist, behauptete er, ich sei nicht sein Sohn. Ich war es auch nicht mehr. Jedes Mal wenn ich in den Spiegel sah, fürchtete ich, eine Ähnlichkeit zu erkennen. Ich habe ihn nicht gehasst, weil ich ihn auch nie geliebt habe. Er war einfach so … böse... ich wollte, dass er leidet, aber gefühlt habe ich nichts für ihn.
Dann wollte er mich zurückhaben. Nicht weil ihm etwas an mir lag, sondern um sein Gesicht zu wahren. Ihm ging es immer nur um sein Ansehen. Das ganze Leben war für ihn Theater, das Verbergen von Geheimnissen hinter einer hübschen Larve.«
Mion hatte Tränen in den Augen. »Wie ist er gestorben?«
»Ich glaube, er ist die Treppe hinuntergestürzt. Eine ganze Nacht lang lag er da und ist gestorben, erst am nächsten Tag hat ihn die Dienerschaft gefunden. Ich hoffe, er hatte Schmerzen.« Jagu schniefte. »Jetzt weißt du es. Alle Menschen sind Lügner und Heuchler. Die Welt ist eine Bühne, Mion, vergiss das nie. Nichts ist, wie es scheint. Du darfst niemandem trauen.«
Sie sahen sich an. »Was ist mit dir?«, flüsterte sie.
Er lächelte mit trauriger Ironie - es war das ehrlichste Lächeln, das er ihr je geschenkt hatte.
Scherben
F aunia war verschwunden. Sie schlief nicht, wie Mion angenommen hatte, sondern war noch in der Nacht des Feuers fortgegangen.
Wohin, das wusste niemand. Die Köchin wollte sie im Morgengrauen gesehen haben, als sie barfuß und im Seidenmantel die Straße hinuntergegangen war. Sie hatte das Haus verlassen, wie sie es vor Jahren betreten hatte, still und geisterhaft, ein flüchtiger Schatten im Dämmerlicht der Stadt.
Osiril erlag vor Aufregung fast einem Fieber, als sie von den Ereignissen erfuhr. Sie war die Einzige, die auf Faunia schimpfte. Sonst herrschte Stille im Haus. Schweigend halfen alle mit, die Spuren des Feuers zu beseitigen, selbst Morizius schleppte verkohlte Bretter, ohne sich zu beklagen.
Sie waren mitten in der Aufräumarbeit, als zwei Sphinxe eine Einladung des Prinzen brachten. Lange hielt Mion den kaiserlichen Brief in den Händen, ohne ihn zu lesen. Sie dachte an Faunia, an Ritus und den Wahnsinn, an Jagu und ihr Gespräch letzte Nacht. Er hatte recht, die Welt bestand aus Fassaden, aber sie beide würden die Wahrheit offenlegen. Sie würden Drachen werden, um den Drachen ihren eigenen Betrug vorzuhalten. Und wenn sie auf dem Weg dorthin hundert Masken tragen und dabei vergessen würde, wer sie in Wirklichkeit war - alles, alles würde sie tun, um Jagu von seinen bösen Geistern zu befreien.
Als Mion sich am nächsten Morgen für den Palast fertigmachte, kam Atlas zu Besuch. Überrascht legte Mion die Bürste beiseite. Atlas wirkte noch erschöpfter als letztes Mal, hatte dunkle Schatten unter den Augen und einen sonderbaren Ernst im Blick.
»Ich habe gehört, dass es einen Brand gab«, sagte er.
Mion nickte. »Ausgerechnet im Atelier. Ein paar Bilder sind verbrannt. Aber wenigstens ist niemand zu Schaden gekommen.«
Er hakte die Daumen im Gürtel ein und durchquerte ihr Zimmer. »Du bist an dem Abend nicht gekommen. Ich habe gar nichts mehr von dir gehört.«
»Du hättest ja auch mal mich besuchen können.«
Atlas nickte nachdenklich. »Ich hatte keine Zeit. Es ist viel passiert.«
»Kann man wohl sagen«, murmelte sie.
»Ich habe gehört, du warst in letzter Zeit oft im Palast?«
»Ich habe dir doch erzählt, dass ich den Prinzen porträtiere. Danke übrigens für die Kleider, die du mir nie geschneidert hast.«
»Wie lange dauert so ein Porträt denn? Monate?«
Mion machte die Augen schmal. Er benahm sich, als hätte sie ihm etwas getan. »Wenn du mir etwas mitzuteilen hast, spuck’s aus, Atlas.«
»Ich dachte, vielleicht hättest du mir was mitzuteilen«, erwiderte er. »Leute haben dich gesehen, als du in den Palast gefahren bist. Du warst ziemlich oft da. Ohne deine Malsachen.«
Mion traute ihren Ohren nicht. Jetzt spionierten die Gilden ihr schon nach!
»Manche denken, du wärst ein Spion«, fuhr Atlas ruhig fort. »Ist das wahr?«
» Was ? Glaubst du das wirklich?«
Er zuckte die Schultern. »Nein. Es ist nur so, dass du Jagus Schülerin bist. Und dem trauen wir alles zu.«
»Wer ›wir‹? Sag doch endlich, was los ist!«
Atlas sah ihr
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