Rabenmond - Der magische Bund
tief in die Augen. »Also gut. Es ist kein Geheimnis, und auch wenn es verboten ist, darüber zu sprechen, wir haben ein Recht auf unsere Stimme! Viele in den Gilden sind schon lange unzufrieden. Die Geschwisterstaaten stehen an unserer Grenze und werden hier einfallen, sobald sich ihnen die anderen Provinzen angeschlossen haben. Manche von uns haben nichts dagegen. Die Länder, denen die Geschwisterstaaten die Volksherrschaft gebracht haben, sind frei und unabhängig.«
»Was meinst du?«, fragte Mion ungeduldig.
»Volksherrschaft, Mion. Das bedeutet, keine Drachen. Die Menschen regieren sich selbst. Den Gilden würde es besser gehen, wenn sie und nicht die Drachen die Handelsbeziehungen zu den anderen Reichen bestimmen würden.«
Mion schwieg. Im Grunde war ihr herzlich egal, was die Gilden wollten. Es beklagten sich immer die Menschen am lautesten, denen es am besten ging.
»Jetzt erzählst du mir schon wieder von Politik. Ich verstehe nicht, was das mit mir zu tun hat.«
»Es betrifft uns alle«, stöhnte er verärgert. »Die Dinge verändern sich. Die helleren Köpfe unter den Gilden wissen es ebenso wie die Drachen. Deshalb heuern sie Spitzel an. Es gab in letzter Zeit Festnahmen - mehr als sonst. Künstler aus angesehenen Familien werden verhaftet, weil sie das eine oder andere gesagt haben. Aber lange lassen wir uns das nicht mehr gefallen. Wenn du wirklich für die Drachen spionierst, wie manche glauben, oder wenn dein Meister ein Verräter ist, könnt ihr das den Drachen ruhig ausrichten.«
Mion verschränkte die Arme. Es war geradezu lächerlich, was Atlas da von sich gab. Vor zwei Tagen wäre sie fast verbrannt, Jagu hatte endlich angefangen, seine Geheimnisse mit ihr zu teilen, und der Prinz wollte sie wiedersehen. Kindische Verschwörungstheorien waren jetzt das Letzte, wofür sie Zeit hatte.
»Also bist du hergekommen, um mich zu fragen, ob ich ein Spion der Drachen bin.«
Atlas schüttelte den Kopf. »Ich bin hier, weil ich mir Sorgen um dich mache und dich warnen will.«
»Mir ist stinkegal, was irgendwelche verstaubten Gildenmeister über mich denken!«
»Nicht vor den Gilden, vor deinem Meister warne ich dich!«
Verdutzt hielt sie inne.
»Wir sind doch Freunde, Freunde reden miteinander. Und dass irgendwas mit dir nicht stimmt, sieht man schon auf hundert Meter! Was es auch ist, ich bin für dich da, und vielleicht kann ich dir helfen.«
»Mir geht es gut«, sagte sie angespannt.
Er lächelte. »Immer noch die Schauspielerin. Hast du mal in den Spiegel geschaut? Du siehst aus wie eine Leiche. Ganz zu schweigen davon, dass euer Haus fast abgefackelt wäre. Sag mir nicht, dass dein Meister dich nicht in Gefahr bringt.« Er wandte sich resigniert zum Fenster um und schwieg eine Weile. »Ich kenne Mädchen wie dich. Ihr gebt euch hart wie Stein. Aufmerksamkeit erwidert ihr mit Verachtung. Eroberte Herzen sind für euch nur... nur Spiegel, die euch ein schmeichelndes Bild von euch selbst zeigen. Respekt habt ihr vor denen, die sich nicht um euch scheren. Ja, je schlechter jemand zu euch ist, umso mehr bewundert ihr ihn. Und zwar weil ihr in eurem tiefsten Inneren nicht glauben könnt, dass ihr liebenswert seid - das ist das Problem. Ihr seid leer... deshalb die Maskerade. Um die Leere in euch zu füllen, wollt ihr von allen geliebt werden. Aber das funktioniert nicht.« Atlas drehte sich um und lächelte trocken. »Und dann kommt jemand, der sich keinen Deut für euch interessiert, der euch benutzt und so schlecht behandelt, wie ihr es insgeheim zu verdienen glaubt. Und ihr denkt, wenn ihr ihn gewinnt, dann kann dieser Sieg auch euch selbst überzeugen. Die Eroberung eines unerreichbaren Herzens würde euch selbst ein Herz geben. So ist es mit Meister Jagu. Ihm ist nichts und niemand wichtig. Darum willst gerade du die Eine sein, die Einzige, die seine dunkle Seele ergründet. Aber du suchst Zuneigung in einem Brunnen, wo es nichts gibt als Finsternis und Kälte, und du weißt noch nicht, dass du da unten gefangen bist.«
Mion sagte nichts. Ihre Kehle war wie zugeschnürt und die Stille machte es nicht besser.
Atlas erwiderte ihren Blick ohne Mitleid. »Ich weiß nicht, was er dir und Faunia versprochen hat, aber was es auch ist - das ist es nicht wert. Er ist es nicht wert, Mion.«
Als er auf sie zukam, wich sie zurück. Atlas hielt inne. Der Raum zwischen ihnen wurde zu einem klaffenden Abgrund, der mit jeder Sekunde wuchs.
»Geh.« Sie wusste nicht, wo sie ihre Beherrschung hernahm,
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