Rabenmond - Der magische Bund
nicht. Er ist in dich verliebt, das ist etwas anderes. Er mag dich nur wegen deines Aussehens.«
Mion schwieg. Sie fühlte seine Lippen noch auf ihrem Mund und seine Hände an ihren Wangen und seinen Atem auf der Stirn und... alles war noch so nah. Sie wusste nicht, ob sie gar nichts empfand oder alles zusammen, es war so verwirrend.
Aber Jagu hatte recht. Der Prinz war verliebt in die Maske, die sie für ihn trug. Es war alles nicht echt.
»Verstehst du nicht, wir haben es geschafft! Sag doch was, verdammt...« Sie sank auf die Knie und packte seine Hand. »Ist es wegen Faunia? Bist du traurig wegen ihr? Ich wette, sie kommt bald zurück! Sie hat doch sonst niemanden.«
Er schüttelte den Kopf. Dann zog er die Hand zurück und bedeckte sein Gesicht. »Eine Schlange«, murmelte er und stand auf.
»Nein!« Sie hielt ihn fest und drückte ihn in den Sessel zurück. »Nein, Jagu, kein Ritus! Bitte! Kein Ritus mehr.«
Er versuchte halbherzig, sie beiseitezuschieben, doch dann ließ er nur den Kopf hängen und seufzte tief.
»Bitte«, schluchzte sie.
Das, was Atlas heute Morgen gesagt hatte, schoss ihr durch den Kopf wie scharfe Pfeile. Es war ihr egal. Alles war egal, sie wusste nichts mehr, nur eins: dass sie es nicht ertrug, Jagu so zu sehen. Sie umarmte ihn und konnte nicht einmal sagen, ob sie ihn halten wollte oder sich an ihm festhielt. Er war der Einzige, der sie kannte. Er wusste, wer sie war. »Wir haben nur einander, wir gegen den Rest der Welt! Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Bitte sag mir, dass ich das Richtige tue!«
Lyrian... Und er hielt sie noch immer für Faunia. Bei ihm hatte sich alles so richtig angefühlt. Sie hatte einfach vergessen, dass er sie nur mochte, weil sie ihn dazu gebracht hatte. Die Vorstellung, sie könne wirklich ein Malerlehrling sein und er könne sie tatsächlich... es war zu schön gewesen. Sie durfte sich von ihrem eigenen Spiel nicht narren lassen.
»Verflucht«, murmelte sie und zwang sich zu einem Lächeln. »Der Drachenprinz mag mich, und bald wird er verraten, wie man sich verwandelt. Bald haben wir es, Jagu.« Sie stand auf und zog die Nase hoch. Erst jetzt merkte sie, dass sie vor Kälte am ganzen Leib zitterte. Mühevoll knüpfte sie ihr Kleid auf und ließ es zu Boden sinken. Auch ihr Unterrock und das Hemd waren feucht und klebten ihr auf der Haut.
Vorsichtig nahm sie Jagus Hand. Er ließ sich von ihr ins Schlafzimmer führen. Sie fand ein Kreidestück und zog den Kreis. Jagu holte den Dolch und eine Schlange. Irgendwo hoffte Mion, Jagu möge zur Vernunft kommen und sie davon abhalten, Ritus zu spielen. Und sie war sicher, dass er dasselbe von ihr hoffte. Aber sie konnte nicht... nicht heute.
Heute würden sie sich den Atem der Schlange teilen und gemeinsam die Schritte gehen, gemeinsam sterben, gemeinsam neu leben.
Als sie schwebten, legte sie den Kopf an seine Schulter und fühlte seine Hand, die sie sachte hielt. So lagen sie im Kreidekreis, zusammen in Leben und Tod.
Es hörte nicht auf zu regnen. Mächtige Wolken zogen über Wynter wie dickbäuchige Wale. Der Himmel schien ein Ozean geworden zu sein, aus dem das Wasser unermüdlich fiel. Selbst als die Gewitter verstummten, regnete es weiter. Mion musste schon morgens eine Öllampe anzünden, weil es so dunkel war. Alles Licht und die Farben waren aus der Welt gewaschen.
Sie erinnerte sich an Regentage in den Ruinen, die ihr endlos vorgekommen waren, Tage, an denen sie in der kleinen Steinhütte herumgesessen und darauf gewartet hatte, dass das Leben endlich weiterging. Ihr Vater saß jetzt noch dort, schliff vielleicht gerade seine Axt. Ihre Mutter webte. Und Mirim panschte in den Wasserbottichen herum, die das hereintröpfelnde Wasser auffingen. Ihre Familie war so nah, dass sie dasselbe Regenprasseln hörten. Und doch gehörten sie einer anderen Welt an.
Sie könnte sie besuchen, nur was würde sie sagen? Wie sollte sie alles erklären? Sie war eine Fremde geworden.
Wenn sie erst ein Drache war, würde sie in die Ruinen gehen und ihre Familie abholen und... sie ebenfalls zu Drachen machen? Nein, das war unmöglich. Allein der Gedanke daran, ihre Eltern könnten fein werden, war abwegig. Aber Mion würde ihnen ein Haus in der Stadt besorgen und Mirim würde zu ihr in den Palast kommen und ein Drache werden. Er war noch jung und konnte lernen, jemand zu sein.
Während der langen grauen Stunden wanderten Mions Sorgen immer wieder zu ihrer Familie zurück. Sie dachte auch an Atlas und an
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