Rabenmond - Der magische Bund
Das hieß, alles aufzugeben. »Jenseits von Wynter gibt es nichts!«
»Aber doch, die Welt! Die ganze Welt. Und du wärst da... und ich.«
»Ich bin doch, ich bin doch eine Malerin. Ich kann das nicht einfach aufgeben, einfach so.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ich glaube nicht, dass Ihr ein schlechter Kaiser wärt. Vielleicht ist es gerade Euer besonderes Verständnis für die Menschen, das Euch zum besten Kaiser machen würde.«
»Du verstehst nicht. Ich habe es versucht, glaub mir. Ich kann nicht. Vor der Wintersonnenwende muss ich das Reich verlassen.«
»Wieso vor der Wintersonnenwende?«
Er ging unschlüssig durch das Zimmer. Für einen kurzen Moment erinnerten seine Bewegungen Mion an etwas - an jemanden - und ein kalter Schreck durchfuhr sie. Aber dann war der merkwürdige Gedanke ebenso schnell fort, wie er gekommen war, ohne eine Spur zu hinterlassen.
»Auch zur letzten Wintersonnenwende seid Ihr aus dem Palast geflohen«, sagte sie leise. Er ging noch immer auf und ab. »Lyrian... was verschweigt Ihr mir?«
»Das fragst gerade du?! Ich weiß immer noch nicht, warum du mich erschossen hast!«
Sie schwieg. Genau genommen hatte sie noch nicht zugegeben, es getan zu haben - jedenfalls nicht direkt. Lyrian hatte sie auch nie gefragt, warum sie den Fuchs getötet hatte. Nun wurde Mion klar, warum: Jemand, der selbst etwas zu verbergen hatte, ließ anderen ihre Geheimnisse.
»Wenn Ihr wollt, sage ich es Euch«, murmelte sie. Dabei hatte sie keine Ahnung, welche Lüge sie ihm erzählen konnte. Oder ob sie allen Ernstes vorhatte, ihm die Wahrheit zu verraten... Sie presste die Augen zu. Was dachte sie bloß!
»Du musst dich nicht rechtfertigen. Bestimmt hattest du ehrliche Gründe dafür, es zu tun, ebenso wie du Gründe hast, es zu verschweigen. Aber ich... ich verstehe, was böse ist und was gut. Und trotzdem...« Er hatte ihr den Rücken gekehrt und stützte sich wieder gegen den Bettpfosten. Behutsam legte sie ihm eine Hand auf die Schulter.
»Bitte. Ihr vertraut mir doch. Was es auch ist, so schlimm kann es nicht sein.«
Er nahm ihre Hand von seinem Rücken und hielt sie, ohne zu antworten. Lange standen sie so da, während der Regen gegen die Fensterscheiben klopfte und das trübe Tageslicht erlosch. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, seufzte. Dann begann Lyrian zu sprechen.
Es war nicht nur der kürzeste Tag im Jahr, sondern auch der ruhigste im Palast: der Tag der Wintersonnenwende. Selbst das gelegentliche Röckerauschen der Dienerinnen verlor sich in den endlosen Gängen. Hallen, in denen sonst Versammlungen und Bankette stattfanden, lagen leer im grauen Winterlicht. Kein Drache zeigte sich. Auch die Sphinxe und Darauden suchte man vergebens. Der Palast war wie ausgestorben, ein gigantisches Denkmal an die Stille und die Ewigkeit.
Im Norden ragten drei Türme in den Himmel, die nirgends mit dem Rest des Palasts verbunden waren. Sie standen auf massigen Felssäulen, jede so breit, dass zwanzig Mann sie nicht hätten umfassen können, und hatten weder Treppen noch Leitern, um ins Innere zu gelangen. Es gab nur einen vorübergehenden Weg in die Türme, eine aufrollbare Hängebrücke in luftiger Höhe, über die zur Wintersonnenwende unzählige Tiere in Käfigen transportiert wurden. Danach wurde die Brücke eingezogen und blieb in den Türmen.
Hier warteten die Drachen, Sphinxe und Darauden den Tag der Wintersonnenwende ab. Heute verloren sie ihre Korpusse und mussten sich bis zur Nacht, wenn das Ritual vollzogen wurde, mit ihren menschlichen Gestalten begnügen. Aus Angst, zu Tode zu kommen, schloss sich jeder in seinem eigenen Raum ein.
Es war das erste Mal, dass Lyrian am Ritual teilnahm. Aufgeregt saß er neben seinen neun Tieren, redete ihnen gut zu und nahm eines nach dem anderen heraus, um es zu streicheln. In den vielen Räumen ringsum, die den Turm wie Bienenwaben füllten, befanden sich andere Drachen mit ihren Tieren. Manche hatten - mit kaiserlicher Erlaubnis - mehr als zwanzig.
Die Räume sahen, soweit Lyrian wusste, alle gleich aus: Ein runder Steintisch bildete die Mitte, darum war ein weiter Kreis in den Boden graviert, Fenster gab es nicht. Feuerschalen spendeten Licht und ein wenig Wärme.
Als die Sonne am wässrigen Himmel versunken war und die Nacht anbrach, begann die Zeremonie. Die Priester blieben eine Weile für sich. Dann strömten sie in Gestalt silberner Schlangen den Spiralweg hinab, der sich durch den Turm schraubte. Die Räume des Kaisers
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