Rabenmond - Der magische Bund
während Faunia mit einem verächtlichen Blick ihr Gemüse in immer kleinere Stücke schnitt.
»Wunderbar«, erwiderte Jagu. »Dann könnt ihr nächste Woche mit dem Geschichtsbuch anfangen. Du musst über die Vergangenheit der Malergilde Bescheid wissen.«
Mion bemühte sich, ihr Gesicht ausdruckslos zu lassen. Noch ein Buch, noch dazu ein Geschichtsbuch. Wen interessierte schon die Vergangenheit, das war doch alles längst vorbei! Eine Weile war nichts zu hören als leises Besteckklirren. Schließlich platzte sie heraus: »Also, wenn ich irgendwann alles weiß, was dann? Male ich mein erstes Bild, wenn ich so alt bin wie Faunia?«
Jagu wandte sich an Faunia, die fahl vor Zorn wurde. »Zeig Mion morgen deine Festgarderobe und hilf ihr, ein Kleid auszusuchen. Ich werde sie zu den Theaterspielen mitnehmen.«
Faunia starrte ihn entsetzt an. Ihre Unterlippe begann zu beben, als hielte sie nur mit Mühe einen Schrei zurück. Dann erhob sie sich, dass das Tafelsilber erzitterte, und lief mit steifen Schritten davon.
Niemand am Tisch wagte, sich nach ihr umzudrehen. In der Ferne schlugen Türen zu.
Ruhig aß Jagu weiter.
»Was für Theaterspiele?«, fragte Mion nach einer Weile scheinheilig, obwohl sie sich gut daran erinnerte, was Osiril ihr erzählt hatte.
»Einmal zwischen den Sonnenwenden veranstalte ich mit den Gilden eine Theaternacht, ganz ohne Drachen. Die wichtigsten Künstler von Wynter sind geladen, um zu plaudern, Geschäfte abzuschließen und sich zu amüsieren. Eine gute Gelegenheit, meine neue Schülerin vorzustellen«, schloss er aufmunternd.
Mion fühlte, wie ihre Hand plötzlich schwer wurde und sie den Löffel hinlegen musste. Endlich. Endlich würde sie ganz offiziell Jagus Lehrling werden. Dann musste er ihr auch die Malkunst beibringen!
»Wann?«, brachte sie hervor. »Ich meine, wann ist diese Theaternacht?«
Jagu wischte sich den Mund an der Serviette ab und zog seine silberne Pfeife und eine Tabakdose hervor. Bald umwölkte ihn der neblige, schwere Duft.
»In zwei, drei Wochen.« Er lächelte. »Bis dahin solltest du das Geschichtsbuch auswendig können.«
Mit einem Gefühl, als hätte sie ein Bienennest verschluckt, ging sie am nächsten Morgen zu Faunia. Höchstwahrscheinlich war sie noch immer beleidigt, aber was scherte Mion das? Es war nicht ihre Schuld, dass Jagu sie mitnehmen wollte. Als sein Lehrling hatte sie genauso ein Recht darauf wie Faunia.
Forsch klopfte sie an und drückte die Klinke hinunter, als sich drinnen nichts regte. Kaum hatte sie die Tür einen Spalt geöffnet, riss jemand sie von der anderen Seite auf: Faunia stand erschreckend dicht vor ihr.
Sie bot einen entsetzlichen Anblick. Traubengroße Diamanten baumelten an ihren Ohren. Das Haar war zu einem größenwahnsinnigen Turm geschlungen, der jedem Adlernest Konkurrenz gemacht hätte. Mit Augen, die Gift und Galle sprühten, fixierte sie Mion.
»Schön, dass du schon wach bist«, begann Mion so freundlich, wie die Glaubwürdigkeit es zuließ. »Ich störe doch nicht, oder? Dann würde ich jetzt gerne mein Kleid für die Theaternacht aussuchen, wenn du erlaubst.«
Sie schob sich an der starren Faunia vorbei und sah sich um. Es war das erste Mal, dass sie ihr Zimmer betrat.
Der Raum war größer als ihr Schlafzimmer, wirkte aber geradezu beengend - denn er war von oben bis unten mit Schätzen vollgestopft.
Truhen über Truhen voller Stoffe und Kleider drängten sich in den Lichtschein staubiger Fenster. Spiegel, wohin man sah. Kleine silberne Handspiegel auf überladenen Anrichten. Lange Wandspiegel hinter Hockern und Sesseln. Verzierte aufstellbare Spiegel zwischen Schränken und Schmuckkästchen. Sogar die Bettpfosten waren mit runden Spiegelstücken verziert.
Faunia knallte die Tür zu - Mion sah es in vielen kleinen Spiegelungen im ganzen Raum.
»Ich habe dir nicht gestattet herzukommen«, keifte sie.
»Entschuldige«, erwiderte Mion, ohne auch nur zu versuchen, dem Wort Bedeutung zu verleihen. »Darf ich mir deine Kleider mal ansehen?«
Sie ging zur nächsten Truhe und zog einen dunkelblauen Samtzipfel aus dem Haufen. Faunia schlug die Truhe zu und hätte Mion um ein Haar den Finger eingeklemmt.
»Fass - nichts - an.«
Sie sahen sich an. Faunias Wimpern zuckten, ihr Mund war verkniffen.
»Also schön«, sagte Mion ruhig. »Dann zeige mir deine Kleider.«
Kurz schien es, als wollte Faunia ihr eine Ohrfeige geben. Mion ballte in Erwartung die Faust. Für einen Moment wünschte sie sich, es
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